8 1/2 Millionen

  • Diaphanes
  • Erschienen: Januar 2009
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  • Zürich; Berlin: Diaphanes, 2009, Titel: '8 1/2 Millionen', Seiten: 299, Übersetzt: Astrid Sommer
  • Richmond: Alma, 2006, Titel: 'Remainder', Seiten: 286, Originalsprache
  • Berlin; Zürich: Diaphanes, 2011, Seiten: 9, Übersetzt: Jürgen Kuttner
  • Berlin; Zürich: Diaphanes, 2012, Seiten: 299
8 1/2 Millionen
8 1/2 Millionen
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Christine Ammann
841001

Belletristik-Couch Rezension vonMai 2012

Auf der Suche nach der verlorenen Authentizität

"Meine Bewegungen sind alle künstlich. Second-hand", meint der namenlose Ich-Erzähler in "8 ½ Millionen", dem Debütroman des britischen Autors Tom McCarthy. Mit diesen Worten erklärt der Erzähler einem Freund das Unbehagen, das Gefühl der Selbstentfremdung, das ihn seit einem ominösen Unfall quält. 

"Etwas fiel vom Himmel, damit hatte es zu tun. Technologie."

Viel mehr weiß der Ich-Erzähler über seinen Unfall nicht zu sagen. Über die Unfallfolgen erfährt der Leser mehr: Wochen im Koma, Gehen lernen, Sprechen lernen, langsame Rückkehr der Erinnerung.

Und der Unfall bringt noch etwas anderes mit sich: den "Vergleich". Der Unfallverursacher, eine nicht näher bezeichnete Körperschaft, zahlt dem Unfallopfer als Entschädigung 8 ½ Millionen englische Pfund.

So schön wie ein Lottogewinn, könnte man nun denken, aber der Held des Romans, der 2006 in England erschien und für den Tom McCarthy den "Believer Book Award" erhielt, bleibt traumatisiert. Ihn beschleicht das Gefühl, dass sich Robert De Niro in einem Film authentischer bewegt als er selbst in seinem Alltag. Vergeblich sehnt er sich danach, in einer Situation ganz aufzugehen, was ihm fehlt, ist das Gefühl der Authentizität. Wer eine Gruppe Jugendlicher einmal dabei beobachtet hat, wie sie sich oder ihre Umgebung mit dem Handy aufnehmen, um Freunden ein Foto zu schicken oder das Foto auf Facebook zu stellen, weiß, wovon der Erzähler spricht. Tom McCarthys Roman, den Astrid Sommer gekonnt ins Deutsche übertragen hat, kann man auch als Beitrag zur Debatte um Manfred Spitzers Buch "Digitale Demenz" lesen. Das Handy-Foto wird wichtiger als das Ereignis selber. Das Zeichen siegt über das Bezeichnete.

In Tom McCarthys Roman begibt sich der Ich-Erzähler auf die Suche nach der verlorenen Authentizität und erinnert sich schließlich an eine lang zurückliegende Situation, in der er sich ganz eins fühlte mit sich selbst: Er befindet sich in einem Mietshaus, im Treppenhaus riecht es nach gebratener Leber, jemand spielt Klavier. Und da er über die erkleckliche Summe von 8 ½ Millionen Pfund verfügt, scheut er weder Mühe noch Kosten, die erinnerte Situation wiederherzustellen.

Das ganze Vorhaben entbehrt natürlich nicht einer gewissen Komik. Aber wer versucht heute nicht, Authentizität zu erkaufen? Natürliches vom Bauern, eine Urlaubsbegegnung mit dem wahren Afrika, echte Handarbeit, das Outdoor-Erlebnis in unberührter Natur ...

"8 ½ Millionen" ist ein überaus witziges Buch, in dem der Held sein Tun und das Leben um ihn herum mit großem Scharfsinn beobachtet. Einmal etwa bittet er ein paar gewitzte Jungen, die an einer Tankstelle herumlungern, die Scheibenwischerflüssigkeit in seinem Auto nachzufüllen. Als die blaue Flüssigkeit auf mysteriöse Weise im Inneren des Autos verschwindet, ist der Ich-Erzähler begeistert: Materie habe sich transsubstantiiert und sei zu Nicht-Materie geworden. Die Jungen erhebt er in den Status von christlichen Märtyrern. Er taumelt vor Glück:

"Ich schaute in den Himmel: Er war blau und endlos. ... Ich fühlte mich beschwingt – beschwingt und inspiriert."

Aber als er den Zündschlüssel dreht, ergießt sich der gesamte Inhalt der drei Flaschen, die die Jungen nach und nach eingefüllt haben, über den Innenraum und den Helden, der nun dasteht wie ein begossener Pudel.

Nach verschiedenen Schwierigkeiten gelingt es dem Ich-Erzähler schließlich, die erinnerte Situation in dem Haus wieder aufleben zu lassen, die Simulation löst allerdings nicht das Glücksgefühl aus, das sich der Protagonist vorgestellt hat. Also macht er weiter, immer manischer versuchen er und sein Angestellter, Authentizität zu simulieren. Am Ende, einem filmreifen Showdown, bricht sich die Realität mit Wucht Bahn und das System der Simulation ist endlich durchbrochen.

Aber "8 ½ Millionen" von Tom McCarthy, der 1969 geboren wurde, bietet noch eine weitere Ebene. Der Roman ist ein intellektueller Lesespaß, eine Hommage an den französischen Philosophen Jean Baudrillard, der unsere Welt als eine Welt der Simulationen begriffen hat, in der das Zeichen über das Bezeichnete den Sieg davon getragen hat, und der den Terrorismus als "reines Ereignis" analysierte, das durch die "Gabe des Todes" die Simulation durchbrechen kann. Und wie in "K", Tom McCarthys berühmtem Roman aus dem Jahr 2010, stößt der Leser auf zahlreiche literarische und philosophische Anspielungen: etwa an die Leber aus "Ulysses" von James Joyce, an Jacques Lacan und andere französische Theoretiker.

Wer "K" gelesen hat, findet in dem Debütroman von Tom McCarthy schon vieles angelegt, was später weiterentwickelt wurde: die Sicht auf die Welt von oben, den Reiz des Fliegens, rauschhafte Glücksmomente. Und bereits in "8 ½ Millionen" beweist Tom McCarthy, dass er die Register der subtilen Komik, der Spannung und des ironischen Hintersinns gekonnt zu ziehen weiß. Ein witziges und zugleich tiefsinniges Buch, das sich zu lesen lohnt.

8 1/2 Millionen

Tom McCarthy, Diaphanes

8 1/2 Millionen

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