I can speak

  • München: Liebeskind, 2012, Seiten: 269, Übersetzt: Matthias Müller
  • New York: Riverhead, 2006, Titel: 'In persuasion nation', Seiten: 228, Originalsprache
I can speak
I can speak
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Britta Höhne
851001

Belletristik-Couch Rezension vonMai 2012

Amerikanisches Projekt zur Selbstverbesserung

Manchmal möchte man sich einfach an den Widmungen festhalten: "Für Paula, wieder, und immer." Dabei gilt es nicht, in die Paula-Geschichte einzusteigen, sondern in die vielen anderen, scheinbar weltfremden und schrägen, die Autor George Saunders unter dem Titel "I can speak" zusammen gefasst hat. Dabei legt der Texaner eine ätzende Gesellschaftskritik vor, über die sich schon im Titel stolpern lässt. Steht doch hinter dem "I can speak!" ein hochgestelltes TM. Trade Mark!

Wer sich in die skurrilen Erzählungen des 1958 in Texas geborenen Autors einliest, fühlt sich an Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" erinnert und an George Orwells legendären Roman "1984". Saunders schildert ähnlich wie Huxley das Manipulieren von Kleinkindern. Werden bei Huxleys 1932 erschienenem Roman bereits Embryos auf Linie gebracht, sind es bei Saunders Kleinkinder, die mit Hilfe einer computergesteuerten Sprachmaske in der Lage sind, sich an den Unterhaltungen der Erwachsenen zu beteiligen. Auch bei Saunders Darstellungen geht es um Alpha-Plus-Menschen und Epsilon-Minus-Typen. Die einen mimen den Held, die anderen den Abschaum. Und nur jene Kinder, die bereits in jungen Jahren den ICS2000-Sprachcomputer tragen, werden es im Leben zu etwas bringen. Der Nachwuchs, der auf der Strecke bleibt, hat später das Recht, die Eltern wegen unterlassener Förderung im Kleinkindalter zu verklagen. Ganz einfach 

Orwells "1984" tritt ins Gedächtnis, wenn es um einen totalitären Überwachungsstaat geht.  Überwacht wird bei Saunders unter der Kapitelüberschrift "Jon" unter anderem das Konsumverhalten. So werden etwa ahnungslose Fußgänger von Hologrammen mit individualisierten Werbebotschaften verfolgt. Beim Ausziehen der Schuhe allerdings gerät die Kontrolle ins Wanken und dem Barfußläufer drohen hohe Schadensansprüche.

Saunders ist aber – trotz der Ähnlichkeiten zu bereits genannten Romanen – ein kreativer Einzeldenker und kein copy-and-paste-Autor. Ihm ist nicht nur daran gelegen, die Welt mit all ihren Zwängen und dem alltäglichen Wahnsinn aufzuzeigen, er verzerrt, hält der Gesellschaft einen Spiegel vor, der – die Übertreibungen einmal ignoriert – so weltfremd doch nicht ist. Der Amerikaner amüsiert sich köstlich über seines gleichen. Über die Mentalität eines "mehr Schein als sein". Die Hilfiger-Cut-offs kommen ebenso zum Vorschein, wie ein Slip von La Perla, die Hermès-Jacke ebenso wie Polaroid-Bilder, Calvin-Klein-Kakis, Old-Navy-Boxers und eine Honda Legend. Dabei zieht Saunders jegliche Marken-Nennung derart ins Lächerliche, dass man augenblicklich den eigenen Kleiderschrank entrümpeln möchte.

Nicht nur der Marken-Wahn steht in Saunders Fokus. Gelungen, sehr gelungen, sind auch die Passagen, in denen er sich der Frage annähert, ob es einen Gott gibt? Die Erzählung "Überzeugungstäter" lässt sich nicht in drei Sätzen zusammen fassen. Nur soviel: Ein Eisbär mit einer Axt im Schädel fragt das grüne Symbol, ob es Gott sei, oder vielleicht nur ein mächtiger Schwindler? Das grüne Symbol "hat vielleicht einen Hauch von Gott, den es sehr aufgeblasen hat. Mit anderen Worten, es ist vielleicht eine Art sekundärer Gott... Der echte, tatsächliche Gott weiß vielleicht nicht einmal, wie sein Universum von diesem aufgeblasenen, falschen Gott rücksichtslos niedergewalzt wird!" Der Eisbär ist sich sicher, dem echten Gott ein Stück näher gekommen zu sein, in dem er realisiert hat, dass das grüne Symbol nur eine schlechte Kopie des echten Gottes ist. Ein falscher Gott also.

Saunders legt wenige Hemmungen an den Tag. Sex ist ein Thema, HIV-positive Babys auch, die es einfach auszusetzen gilt. Tierversuche nehmen in "93990" einen Teil des Buches ein und "Die rote Schleife", in der ein Kind mysteriös zu Tode kommt. Saunders scheint mit seinen Erzählungen dem "American way of life" ein Verfallsdatum aufdrücken zu wollen. Was ihm streckenweise derart gut gelingt, dass der Leser zwischen Ekel, Angst und einem Gefühl von "Recht-hat-er" schwankt. 

Dabei sind die Geschichten nicht durchgehend stark, aber durchgehend wunderbar geschrieben und von Matthias Müller ins Deutsche übertragen.

"Saunders` große Kunst besteht darin, absurde Satiren zu schaffen, die so menschlich sind, dass es einem das Herz zerreißt", war in The Boston Globe zu lesen. Zum einen zerreißt es das Herz, weil alles so unglaublich weit weg zu sein scheint und zum anderen, weil viel Wahrheit in einzelnen Passagen steckt. 

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