Menuett

  • Alexander
  • Erschienen: Januar 2011
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  • Berlin: Alexander, 2011, Titel: 'Menuett', Seiten: 152, Übersetzt: Barbara und Alfred Antkowiak
  • Utrecht: De Arbeiderspres, 1955, Titel: 'Menuet', Seiten: 144, Originalsprache
Menuett
Menuett
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Rita Dell'Agnese
901001

Belletristik-Couch Rezension vonFeb 2012

Die eigene Wahrnehmung hinterfragen

Drei Menschen, drei Sichtweisen: In seinem Menuett liefert Louis Paul Boon auf eine unspektakuläre, wenngleich keineswegs farblose, Art den Beweis, dass es in jedem Fall mehrere Wahrheiten gibt. In den Mittelpunkt seines Romans rückt Boon einen Mann, seine Frau und das junge Dienstmädchen. In drei getrennten Abschnitten verleiht Boon ihnen allen eine Stimme und lässt sie das Geschehen der letzten Monate und ihre jeweiligen Gedankengänge dazu schildern. Dadurch entsteht eine faszinierende Dreiteilung der Wahrheit. Dem Mann gibt Boon einen oberflächlich soliden Charakter und lässt ihn in einem Eiskeller eine eintönige Arbeit erledigen. Unter der Oberfläche brodelt aber die pädophile Neigung, die der Mann zwar noch unter Kontrolle halten kann, die ihn aber mehr und mehr gefangen nimmt. Mit dieser Geschichte – es ist die längste der drei Schilderungen – beginnt Boon sein Menuett und setzt das Fundament, auf das er mit der Sichtweise des Mädchens und schließlich der Frau aufbaut.

Obwohl Louis Paul Boon sein Menuett in ganze 140 Seiten packt, erzählt er üppig und überzeugend, dies allerdings in einer stark verknappten Sprache. Alleine durch die geschickte Wortwahl braucht er manche Situation nicht näher auszuführen. Sie wird verstanden und interpretiert, was wohl vom Autor angesichts des Grundkonzeptes auch so gewünscht ist. Denn letztlich ist es gerade diese persönliche Interpretation einer Situation, die den Roman in seiner Form überhaupt möglich macht.

Völlig falsch wäre jedoch, angesichts der angesprochenen Phantasie und Eigeninterpretation davon auszugehen, dass "Menuett" von Lücken beherrscht wird, die der Leser selbständig auszufüllen hätte. Autor Louis Paul Boon erzählt die ganze Geschichte. Und er erzählt sie vollständig, bietet jedoch erheblichen Spielraum, die jeweilige Sequenz in Gedanken auszubauen und sie mit der eigenen Sichtweise zu beurteilen. Er erwartet also von seinen Lesern nichts anderes, als dass sie mit seinem Roman das tun, was sie täglich ununterbrochen tun: Eine bestimmte Begebenheit sofort zu erkennen, zu analysieren und einzuordnen. Durch die Dreiteilung der Geschichte und das Einbringen der anderen Sichtweise macht er jedoch deutlich, wie schnell man geneigt ist, seine eigene Wahrheit zu bilden und andere Möglichkeiten dabei außer Acht zu lassen.

Weit entfernt ist Boon von einer klaren Zuordnung der Protagonisten in "gut" und "böse". Wohl nicht zuletzt mit dem Hintergedanken, provozieren zu wollen, lässt der Autor das Mädchen in eine Lolita-Rolle schlüpfen. Es ist sich seiner Wirkung auf den Mann durchaus bewusst und sie spielt diese gnadenlos aus, um ihn aus der Reserve zu locken. Während er darüber sinniert, dass sie seine sexuell motivierten Gedanken nicht erraten darf, überlegt sie sich, wie sie sich im wirkungsvollster Weise präsentieren soll, um eben jene Gedanken in Gang zu bringen. Wie naiv dieses Spiel der Heranwachsenden tatsächlich ist und wo Berechnung ins Spiel kommen könnte, lässt Boon offen.

Die Auseinandersetzung mit "Menuett" bringt den Leser dazu, eigene Wahrnehmungen zu hinterfragen. Auf eine sehr ungewöhnliche Weise hält ihm der Autor nämlich einen Spiegel vors Gesicht. Als abgegrenzter Text läuft über alle Seiten des Romans eine Art Polizei-Ticker mit, in dem zwar einige Verbindungen zum Romantext verborgen sind, der aber hauptsächlich einen tief verwurzelten Voyeurismus entfacht. Durch diesen mehrfachen Dialog mit den Lesern schafft es der Autor, in einem knapp gehaltenen Werk eine große Aussage unterzubringen. Eine Aussage zudem, die der Leser sich durch die geschickte Führung Boons selber erarbeitet.

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