Erzählungen

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Peter Kümmel
701001

Belletristik-Couch Rezension vonJan 2012

Bellows Figuren sind wichtiger als die Handlung

"Man sagte ihm gelegentlich nach, dass er niemanden liebe. Das stimmte nicht. Er liebte niemanden regelmäßig. Aber unregelmäßig liebte er, seiner Schätzung nach, etwa durchschnittlich."

Wenn man eines Bellow nicht vorwerfen kann, dann ist das die Tatsache, dass seine Charakterbeschreibungen oberflächlich seien. Nein, ganz im Gegenteil. Überspitzt gesagt sind die Charaktere seiner Erzählungen fast wichtiger als die Handlung selbst. Meist kennt man die Figuren des Geschehens bis in alle Einzelheiten, bevor die Geschichte wirklich anfängt.

So wie Dr. Samuel Braun, der "unregelmäßig aber durchschnittlich liebt" aus der Erzählung "Das alte System" (The Old System). Dabei ist Dr. Braun nicht mal die Hauptperson der Story, sondern fungiert quasi als Erzähler. Vier Geschwister planen gemeinsam, sich an einem riskanten Geschäft zu beteiligen. Doch nur Isaac, der Älteste, geht das Risiko ein, die anderen springen ab. Tina, die Jüngste, ist jedoch nicht selbstkritisch genug und kann es Isaac nicht verzeihen, dass er allein zu großem Reichtum gekommen ist.

In "Eine silberne Schale" (A Silver Dish) stellt uns Bellow den Geschäftsmann Woody Selbst vor. Die Story beginnt mit einem 60-jährigen Woody, der den Tod seines Vaters betrauert und schildert anhand eines einzigen Ereignisses an einem Tag seine Entwicklung von der Zeit der Großen Depression in den 1930er Jahren bis in die 80er.

Ein besonderes Prachtexemplar von Charakterbeschreibung ist auch George Grebe aus der Erzählung "Auf der Suche nach Mr. Green" (Looking for Mr. Green). Der Akademiker George Grebe hat einen neuen Job bei der Stadtverwaltung von Chicago. Er trägt im Negerviertel die Schecks der Sozialversicherung aus. Was sich als gar nicht so einfach herausstellt, denn die Adressen stimmen oft nicht und die Schwarzen hüten sich, einem Weißen weiterzuhelfen. Schon die erste Suche nach einem Mr. Green scheint für Grebe ein unlösbares Problem zu werden.

Die in der Provinz aufgewachsene Modejournalistin Clara Velde hat bereits vier Ehen hinter sich, Ithiel Regler drei. Und doch fühlen sich die beiden immer noch zueinander hingezogen, genauso wie vor ihren Ehen. Ein Smaragdring, vor langer Zeit als Geschenk gemacht, zeugt davon, wie viel Clara Ithiel bedeutet. Was mit diesem Ring passiert, dürfte aufgrund des Titels "Ein Diebstahl" (A Theft) klar sein.

Die Entstehungsgeschichte der Erzählung "Die Bellarosa Connection" (The Bellarosa Connection) schildert Bellows Witwe Janis im Vorwort. Der namenlose Erzähler der Story leitete ein Institut, das Geschäftsleuten helfen soll, ihr Gedächtnis zu schärfen. Nun im Alter lässt sein eigenes Gedächtnis nach. Dies ist für ihn der Grund, sich an den jüdischen Flüchtling Harry Fonstein zu erinnern und dessen Leben in allen Einzelheiten zu schildern. Unbekannte Retter ermöglichen Fonstein die Flucht aus einem italienischen Gefängnis. Erst später erfährt er, dass der Broadway-Impressario Billy Rose dabei die Fäden zog. Fonstein kann es nicht verwinden, dass Billy Rose ihm niemals die Gelegenheit gab, ihm persönlich zu danken.

Die dreizehn Erzählungen, die in der über 800 Seiten starken Anthologie "Erzählungen" (Collected Stories) versammelt sind, hat der Autor selber noch vor seinem Tod zusammengestellt. Neben bekannten und weniger bekannten Novellen und Erzählungen enthält der Band auch eine deutsche Erstveröffentlichung. "Am St. Lorenz" (By the St. Lawrence) schildert die Erinnerungen eines alten Mannes, der nach vielen Jahren in seinen Heimatort Lachine in Quebec zurückkehrt. Lachine, das ist der Geburtsort von Saul Bellow und "Am St. Lorenz" ist seine letzte Erzählung.

Der Nobelpreisträger Saul Bellow ist ein Meister der klassischen Erzählung. Mit metaphorischen Beschreibungen und subtilem Humor kommt er immer wieder auf sein Lieblingsthema zu sprechen: die Entwicklung des Judentums im alten Europa zum modernen in Amerika, wie es neureiche Amerikaner vorleben.

Seine Geschichten schwanken dabei immer zwischen Witz und Tragik. Nicht alle der hier versammelten Werke können den Leser wirklich fesseln, doch bietet die Anthologie einen interessanten Querschnitt durch das Werk eines großen Autors.

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