Bibliothek der unerfüllten Träume

  • New York: Free Press, 2008, Titel: 'Songs for the butcher´s daughter', Seiten: 370, Originalsprache
  • Hamburg: Hoffmann & Campe, 2009, Seiten: 446, Übersetzt: Kathrin Razum
  • München: dtv, 2011, Seiten: 446
Bibliothek der unerfüllten Träume
Bibliothek der unerfüllten Träume
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Rita Dell'Agnese
901001

Belletristik-Couch Rezension vonDez 2011

Eine Liebeserklärung an die Sprache

Vermag ein in katholischer Religiosität aufgewachsener Mensch ein jüdisches Buch zu schreiben? Peter Manseau beweist, dass dies möglich ist. Es mag sein, dass gerade seine persönliche Geschichte – Manseau ist Sohn eines katholischen Priesters und einer ehemaligen Nonne – dazu beigetragen hat, den Weg zu diesem Buch zu ebnen. Dies und die sprachliche Virtuosität des Autors, mit der er eine Liebeserklärung an die Sprache schlechthin verfasste, machen "Bibliothek der unerfüllten Träume" auch für Nicht-Juden zu einem Erlebnis. Zugegeben – vor dem Einstieg in die Lektüre muss der Leser bereit sein, sich dem Judentum zu öffnen und sich gleichzeitig allem religiösen Fanatismus zu verschließen. Nur so wird ein Nicht-Jude die Klippen umschiffen, die Aufbau und einzelne Passagen des Buches trotz allem bilden.

Peter Manseau schlüpft in zwei Rollen. Zum einen lässt er einen jungen Übersetzer zu Wort kommen und seine Geschichte erzählen, zum anderen ist es der alte Literat Itsik Malpesch, der seine Lebensgeschichte schildert. Diese Aufteilung gibt Manseau großen Spielraum bei der Ausgestaltung des Romans. Während sich der Übersetzer mangels besserer Stellenangebote und alleine aufgrund seiner im Theologie-Studium erworbenen Hebräisch-Kenntnisse als Archivar bei einer jüdischen Organisation verdingt, ist Itsik Malpesch einer jener Menschen, die alleine aufgrund ihrer jüdischen Herkunft Anfeindung und Verfolgung erlebten. Die Auseinandersetzung mit der jiddischen Sprache führt den Übersetzer zu Malpesch, denn der verfügt über eine umfangreiche Bibliothek. Und so kommen sich zwei Menschen näher, die anfänglich nur wenig gemein haben. Der Übersetzer avanciert nach einem Einstieg mit ihm als Hauptperson zunächst zur Nebenfigur, Malpeschs Erinnerungen – präsentiert in der Manier orientalischer Erzählkunst – nehmen den größeren Raum ein als die Gegenwart. Erst mit Verlauf des Romans gewinnt der Übersetzer an Bedeutung und kehrt in eine tragende Rolle zurück.

Bei aller Religiosität, die sich in diesem Roman offenbart, bleibt Peter Manseau erstaunlich unreligiös. Mit großem Fingerspitzengefühl arbeitet er den ganz speziellen jiddischen Humor in die Geschichte hinein, verleiht dem alten Literaten einen liebenswerten Charme und erzählt selbst brutale Details aus der Vergangenheit von Itsik Malpesch mit einer Leichtigkeit, die dem Geschehen zwar nicht den Schrecken nimmt, die es aber in Worte kleidet, ohne als bedrückende Abstrafung verstanden zu werden. So schafft es Manseau, den Leser bei der Stange zu halten und ihn dennoch mit einer Geschichte zu konfrontieren, die bedrückender kaum sein könnte. Spätestens mit diesem Roman bekommt der Pogrom ein persönlicheres Gesicht. Es ist nicht mehr so einfach, sich der Auseinandersetzung mit dem Thema zu verweigern.

"Bibliothek der unerfüllten Träume" ist gleichermaßen ein schwer verdauliches wie auch leichtfüßiges Buch. Es ist in einer hinreißenden Sprache liebevoll erzählt. Es ist aber auch in einem Masse anspruchsvoll, das von den Lesern mehr verlangt, als nur gerade ein paar Stunden Aufmerksamkeit. Über seine Protagonisten hält Manseau den Lesern immer wieder unvermittelt einen Spiegel vor das Gesicht und an mancher Stelle wird die unausgesprochene Sprache gestellt, auf welcher Seite sich der Leser hier wieder findet. Wer sich dieser Gewissensfrage nicht stellen mag – aber auch, wer sich nicht auf die Hintergründe des Judentums und insbesondere der jiddischen Kultur einlassen mag, dürfte durch diesen hohen Anspruch des Autors überfordert sein.

Die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Roman beginnt allerdings erst, wenn der Leser die letzte Zeile verschlungen hat und sich genötigt sieht, die Figuren los zu lassen. Vor allem Itsik Malpesch mit seiner liebevoll humorvollen Art, Dinge beim Namen zu nennen, hinterlässt seine Spuren. Spuren, über die der Leser in verschiedensten Situationen unvermutet wieder stolpert, die ihn die nächsten Tage, Wochen, vielleicht Monate oder Jahre begleiten.

Größter Schwachpunkt des Romans ist das dürftige Glossar, das nur gerade die wesentlichsten Begriffe erklärt. Hier hätte man sich eine Zusatzleistung durch den Verlag gewünscht und ein umfangreicheres Glossar wie auch eine kurze Einführung ins Jiddische begrüßt.

Bibliothek der unerfüllten Träume

Peter Manseau, Hoffmann & Campe

Bibliothek der unerfüllten Träume

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