Gerron

  • München: Nagel & Kimche, 2011, Seiten: 539, Originalsprache
Gerron
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Birgit Stöckel
981001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2011

Eine meisterlich fesselnde und berührende Verknüpfung von Fakten und Fiktion

Gerron von Charles Lewinsky ist ein Buch, das es dem Klappentext nach nicht unbedingt leicht hat. Bücher über das dritte Reich und das Schicksal von Juden in Ghettos und Konzentrationslagern gibt es zuhauf und mittlerweile ist ein Teil der Leserschaft davon schon gesättigt. Doch Gerron ist auch ein Buch, das es verdient hat, gelesen zu werden.

Charles Lewinsky stellt den jüdischen Sänger, Schauspieler und Regisseur Kurt Gerron in den Mittelpunkt seines Romans und verwebt die bekannten Fakten geschickt mit fiktionalen Erlebnissen und entwirft damit nicht nur ein faszinierendes und gut ausgearbeitetes Portrait, sondern zeigt auch die Lebensumstände während und zwischen den beiden Weltkriegen und in Theresienstadt auf.

Dabei verzichtet er wohltuender weise auf billige Effekthascherei. Die Geschichte wird dem Leser aus Sicht Gerrons erzählt und der Ton ist mal ernst, mal humorvoll, mal zynisch, sarkastisch und ironisch und auch immer mal wieder bitter oder mit Selbstmitleid durchzogen. Dabei sind es oft die Dinge, die mehr nebenbei erwähnt werden, die einen als Leser berühren und betroffen machen.

Eine Entscheidung ohne echte Wahl

Das Buch beginnt 1944 in Theresienstadt, als Kurt Gerron den Auftrag bekommt, einen Propagandafilm zu drehen, in dem das Leben im Ghetto verherrlicht werden soll. Eine echte Alternative hat er nicht, denn eine Weigerung bedeutet für ihn und seine Frau den Transport nach Auschwitz. Eine Zustimmung hingegen bedeutet die Aufgabe seiner Moral und seines Gewissens.

Nachvollziehbar ist der innere Kampf geschildert und man stellt sich als Leser unwillkürlich die Frage, wie man selber entscheiden würde, wenn man eigentlich keine Wahl hat. Zudem bekommt man durch die Rückblicke Gerrons auf sein Leben einen guten Einblick in die Kriegsbegeisterung, die beiden Weltkriegen vorausging, der Zeit dazwischen und dem Irrsinn der nationalsozialistischen Herrschaft sowie dem Leben in Theresienstadt, wo immer noch um einen wahnwitzigen Abklatsch von Normalität gekämpft wird.

Ein rundherum gelungenes Werk

Charles Lewinsky verknüpft Fakten und Fiktion so meisterhaft miteinander, dass man leicht vergisst, wie viel davon erfunden ist und dass der Kurt Gerron, den man im Buch kennenlernt, hauptsächlich der Fantasie des Autors entsprungen ist. Doch es ist eine sehr glaubhafte Fantasie, die einen sehr menschlichen Kurt Gerron zeigt. Der neben seinen Talenten als Schauspieler und Regisseur und anderen Vorzügen auch einige Schwäche hat, die nicht verschwiegen werden.

Ob die Beschreibung Lewinskys mit der tatsächlichen Persönlichkeit Kurt Gerrons übereinstimmt, sei einmal dahin gestellt und vermutlich ist eine Diskussion darüber auch müßig, da wir die Wahrheit sowieso nicht mehr erfahren werden. Doch dem Kurt Gerron, den man in diesem Buch kennenlernt, folgt man gerne durch seine Geschichte und so ist mit Gerron ein fesselndes, tiefgründiges, vielschichtiges, berührendes und auch betroffen machendes Buch entstanden, dessen Lektüre man allen Literaturliebhabern nur wärmstens empfehlen kann.

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