Der Stein

  • München: Luchterhand, 2011, Seiten: 139, Originalsprache
Der Stein
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Georg Patzer
951001

Belletristik-Couch Rezension vonSep 2011

Märchen, die auch wahr sein können. Franz Hohler erzählt von einer verzauberten Welt - ganz realistisch

Als der Präsident auf seinem Weg zum Regierungsgebäude seinen üblichen Café au lait bei Catherine trinkt, sitzt da plötzlich eine kleine Katze auf dem Stuhl neben ihm. Er füttert sie mit Croissant, krault sie ein bisschen und fragt Catherine, ob das ihre Katze sei. Nein. Ist sie nicht. Und als der Präsident dann ins Amt geht, geht die Katze einfach mit. Er wird sie nicht mehr los, verjagen, geht nicht, sie kommt einfach mit, setzt sich neben seinen Bürostuhl und putzt sich. Als der Departmentschef sie einfängt und ins Nebenzimmer trägt – denn der Präsident hat an diesem Tag wieder viele wichtige Termine – kommt er mit einer blutenden Hand zurück.

Und die Katze schlüpft mit der ersten Delegation von der Rüstungsindustrie wieder hinein und springt dem Präsidenten auf den Schoß. "Smeralda heißt sie", sagt der Präsident zu seiner eigenen Überraschung und lässt sie im Zimmer. Vor allem, weil die Sitzung bedeutend entspannter verläuft, "was ihre Ergebnislosigkeit erträglicher machte".

Als er mit einem "fernen Diktator" telefoniert, der für die Freilassung von zwei Geiseln  immer neue Bedingungen stellt, sagt der Präsident: "Ich weiß, dass Ihnen unsere zwei Bürger egal sind. Und wissen Sie was? Mir sind sie auch egal." Und lacht. Und der Diktator lacht auch. – Zwei Stunden später sind die Geiseln frei.

Es sind Märchen, die der Schweizer Erzähler und Kabarettist Franz Hohler in seinem neuen Buch erzählt. Aber können Märchen nicht auch einmal wahr sein? Dass ein Regierungspräsident, nach anfänglichem Zögern, auch seine menschlichen Seiten entdeckt. Dass eine junge Frau, die für einen Pianisten die Seiten umblättert und, als er einmal ausfällt, für ihn Klavier spielt, lieber ins Kloster geht als Karriere zu machen. Dass ein Ehepaar im Schneesturm im Radio einen vor langer Zeit gestorbenen Onkel hört. Dass einer, der sich in die Einsamkeit zurückgezogen hat, am Dreikönigstag von einem nichtexistenten vierten König gerettet wird. Dass ein Schweizer Soldat an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea einen Tiger sieht.

Alles ist möglich in der Welt, wie Hohler sie sieht. Oder in den Welten, denn die Geschichte des Bleistiftstummels variiert er siebenfach, lässt sich in phantastische Möglichkeiten treiben, sieht den Bleistift sich verwandeln, macht ihn zum Wunderstift. Oder lässt ihn einfach liegen: "’Ein Bleistiftstummel?’ dachte ich, ´im Ernst, was soll ich mit einem Bleistiftstummel?’"

Aber es sind gerade die kleinen Dinge, die zählen, die unscheinbaren Begegnungen, die unauffälligen Bewegungen, wie das leichte Kratzen, der unwillkürliche Juckreiz vieler Menschen, aus denen Hohler funkelnde Miniaturen zaubert, Einblicke in das menschliche Wesen, das er mit allen seinen Skurrilitäten doch sehr liebenswert findet.

Realistisch und ganz alltäglich beginnt er meist seine kleinen Geschichten und wird  dann durch kleinste Abweichungen in ein phantastisches Leben gezogen: in eine andere, bessere, gefühlvollere und verzauberte Welt, in der es dann passieren kann, dass ein kleines Kätzchen einem das Leben rettet. Das alles kommt bei Hohler so leicht daher, schwebend und duftig, dass man gar nicht anders kann, als selbst verzaubert zu sein und davon zu träumen, dass dies alles, diese Märchen doch vielleicht wahr sein können. Aber das liegt an uns.

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