Das stille Kind

  • dtv
  • Erschienen: Januar 2011
  • 1
  • München: dtv, 2011, Seiten: 285, Originalsprache
Das stille Kind
Das stille Kind
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Rita Dell'Agnese
451001

Belletristik-Couch Rezension vonSep 2011

Man hätte mehr erwarten können

Nach einigen Ehejahren und drei Kindern begegnen sich Paulina und Lukas mit Schweigen. Das Paar, das einige Jahre zuvor gegen den Widerstand von Paulinas Eltern zueinander gefunden hat, ist an einem Wendepunkt angelangt. Einen wesentlichen Anteil hat die Lebenssituation der kleinen Familie. Auf beengtem Raum und von den Nachbarn mit ständigen Reklamationen eingedeckt, müssen sie versuchen, über die Runden zu kommen. Als Landschaftsgärtner kann Lukas keine Reichtümer anhäufen, ein Umzug in eine größere Wohnung verkraftet das Budget nicht. Dazu kommt, dass sich das mittlere der drei Kinder, der dreijährige David, zu einem schwierigen Kind entwickelt. Obwohl Paulina ahnt, dass mit David etwas nicht stimmt, will sie ihn nicht untersuchen lassen. Sie fürchtet, eine negative Prognose könnte das wacklige Familiengebilde kippen lassen. Da lernt Paulina den wohlhabenden Pierre kennen.

Nicht nur, wer sich selber mit dem Anderssein eines seiner Kinder auseinander setzen musste, wird sich in diesem Roman ein Stück weit selber erkennen. Die Autorin Asta Scheib lässt einen ungeschminkten Blick auf ein Familienleben zu, das durch den Alltag Risse bekommt, die zunächst kaum beachtet werden. Erst als sowohl Paulina als auch Lukas jemanden kennen lernen, der ihrem Dasein als Paar gefährlich wird, merken die beiden, wie stark ihre Beziehung bereits belastet ist. Sie müssen sich mit der Frage auseinander setzen, ob sie eine Zukunft zusammen haben oder ob sich ihre Wege trennen werden. Erschwert wird die Situation durch Davids Verhalten, das immer stärker von der Norm abweicht. Dieser schleichende Prozess des Zerfalls wird von Asta Scheib überzeugend dargestellt. Nachvollziehbar sind Paulinas Ängste, sich der Wahrheit um Davids Zustand zu stellen und einem Untersuch zuzustimmen.

Versteht man diesen Roman als Geschichte einer Familie in der Mühle des – in vielen Punkten belastenden – Alltags, hat Asta Scheib einiges zu bieten. Wer aber auf der Suche ist nach einem Roman, der sich auf das Zusammenleben mit einem autistischen Kind bezieht – und als solcher wird Das stille Kind gehandelt, wird man seine Erwartungen bei weitem nicht erfüllt sehen. Obwohl Davids Verhalten eine wesentliche Komponente der sich ausbreitenden gegenseitigen Sprachlosigkeit des Ehepaares ist, so ist es letztlich nicht das Kind, das im Zentrum steht. Die Verhaltensauffälligkeit des Jungen wird über lange Strecken des Buches zwar geschildert, es wird dazu aber kaum Hintergrund geliefert. So bleiben die Leser mit dem diffusen Gefühl alleine, dass mit David etwas nicht stimmt, ohne benennen zu können, wo das Problem liegt.

Surreal mutet die Entwicklung der Geschichte spätestens mit dem Auftauchen von Pierre an. Hier wird eine feinfühlige Alltagsbetrachtung unversehens mit dem Märchenprinz-Mythos verwoben, was sich auf den Roman höchst ungünstig auswirkt. War es vorher ein glaubwürdiges Zusammenspiel verschiedenster Faktoren, die die Familie auf einen negativen Punkt hin steuerten, bekommt die Geschichte eine leicht schale Note, die in eine unglaubliche und nahezu kitschige Story mündet. Spätestens ab hier ist klar, dass es in diesem Buch nicht vornehmlich um das Zusammenleben mit einem autistischen Kind geht, sondern dieses lediglich ein schmückendes Beiwerk bleibt.

Leider vermögen auch die Protagonisten den Bruch in der anfänglich überzeugenden Geschichte nicht wettzumachen. Lukas bleibt ein verhaltener, verschlossener Charakter, der auch seinen Kindern mit kühler Distanz zu begegnen scheint – aber im Handlungsverlauf doch immer wieder Nähe lebt. Diese Unvereinbarkeit von Gedanken und Handeln wirkt irritierend und verunmöglicht es, Lukas als Persönlichkeit zu fassen zu bekommen. Ähnlich Paulina, die ihren Traum, Schauspielerin zu werden, nie ganz begraben hat und sich durch die Kinder eingeschränkt fühlt, gleichzeitig aber die Kinder als Mittelpunkt ihres Daseins begreift. Man wünschte sich hier mehr Tiefe in der Ausgestaltung der Charaktere. Dass sowohl Lukas als auch Paulina eine Lebensgeschichte mitbringen, deren Tragik über das normale Maß hinausgeht, kommt weder der Geschichte noch den Protagonisten zu Gute.

Das stille Kind wirkt in seiner ganzen Aussage unausgereift und wenig überzeugend. Es ist nicht zu erkennen, welche Richtung die Autorin tatsächlich einschlagen wollte. Viele Themenbereiche sind lediglich angeschnitten, Hintergrund zu Davids Verhalten wird nur sehr eingeschränkt geboten und die schwarz-weiß-Skizzierung der handelnden Personen – ohne Paulina und Lukas – wirkt stellenweise langweilig. Gerade von Asta Scheib, die sich mit mehr als einem Roman als brillante Beobachterin und feinfühlige Schreiberin  bewiesen hat, hätte man zu diesem Thema weit mehr erwarten können.

Das stille Kind

Asta Scheib, dtv

Das stille Kind

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