West Side Story

Film-Kritik von Yannic Niehr / Titel-Motiv: © Disney

Neuinterpretation eines Broadway-Mythos

Trümmer, Schutt, altes Eisen, Abrissbirnen … eine Luftaufnahme gleitet über die sterbenden Überreste eines New Yorker Slums in den frühen Morgenstunden. Die Ruhe ist süß, aber trügerisch. Bald wird hier das neue Lincoln Center stehen, so informiert uns ein Schild – und mit ihm ein paar schicke Reihenhausappartements für eine wohlhabende Klientel. Ein markantes Pfeifen ertönt. Denn ganz unbewohnt sind diese Ruinen noch nicht: Wie Ratten aus ihren Löchern kriechen Jungs und versammeln sich – das hier ist ihr Revier, schon immer gewesen. Ob sie es werden halten können? Oder werden sie dem Wandel weichen müssen und mit dem Staub der Zeit hinweggefegt? Mit diesen stimmungsvollen Momenten macht Steven Spielberg von Beginn an klar, dass er mit seinem Remake des Klassikers West Side Story eine gänzlich andere Agenda verfolgt als das Original – eine Rechnung, die für den versierten Filmemacher zum Glück vollumfänglich aufgeht.

„Tonight, tonight, it all began tonight …”

Doch erstmal alles auf Anfang: 1957 wurde das Musical West Side Story uraufgeführt – und schrieb augenblicklich Broadway-Geschichte. Die filmgleiche Dynamik der Inszenierung, die kunstvolle Verschmelzung von Bewegung, Musik und Dialogen zu einer Einheit im Dienste von Arthur Laurents Story sowie die zum Teil krassen, sozialkritischen Inhalte waren vielleicht nicht revolutionär, aber zumindest wegweisend. Das gleiche galt für die Art und Weise, wie Tanz als eines der Hauptstilmittel zum Vorantreiben und zur Entwicklung der Geschichte genutzt wurde; die raffinierten Choreographien von Jerome Robbins waren allen anderen Handlungselementen ebenbürtig.

Gleichzeitig besteht der Soundtrack fast ausschließlich aus Evergreens: Die berauschenden, aber gleichzeitig hochintelligent aufgebauten und theaterwirksam genutzten Melodien von Leonard Bernstein schaffen sowohl ein lateinamerikanisches Flair, als auch eine verklärte Stimmung, die dennoch in der harten Realität des Settings verankert bleibt. Nicht zuletzt deswegen sind Ohrwürmer wie „Maria“, „Tonight“, „I Feel Pretty“ oder „America“ stets unvergessen geblieben. Die genialen Texte von Stephen Sondheim, für die er einen eigenen, als zeitlos angelegten Slang entwarf, verbinden mühelos die Gossensprache des rauen Pflasters mit hintergründiger Gesellschaftskritik als auch mit idealistischen, lyrischen Passagen. Sondheim gab mit West Side Story sein Kreativdebüt, bevor er selbst Musik zu schreiben begann und zu einem der größten Musicalkomponisten des 20. Jahrhunderts wurde. Leider starb er dieses Jahr im Alter von 91 Jahren noch vor der Premiere des Remakes.

1961 kam die Verfilmung von Robert Wise in die Kinos, an der ebenfalls Jerome Robbins beteiligt war. Der Film mit Natalie Wood, Richard Beymar, George Chakiris und Russ Tamblyn konnte stolze 10 Oscars gewinnen und tat sein Übriges dazu, West Side Story endgültig im popkulturellen Gedächtnis zu verankern. Der Soundtrack landete eines Tages im Elternhaus eines noch jungen Steven Spielberg, der sich schon als Kind in das Meisterwerk verliebte. So wurde der Samen für die Idee gesät, den Stoff noch einmal zu erzählen. Und schaut man sich die neue Fassung an, bleibt die Frage nicht aus: Gibt es eigentlich überhaupt ein Genre, das Spielberg nicht beherrscht?

„Well, they began it!”

West Side Story erzählt die Geschichte von Shakespeares Romeo und Julia, versetzt ins Straßenmilieu an der New Yorker West Side in den 1950er Jahren: Zwei rivalisierende Gangs – die „einheimischen“ Jets und die puertoricanisch-stämmigen Sharks – geraten hier in blutigen Revierkämpfen immer wieder aneinander. Selbst der Polizei, allen voran dem rassistischen Lt. Shrank, sind die jugendlichen Straftäter längst ein Dorn im Auge. Riff, der Anführer der Jets, möchte die Sache ein für allemal klären und Bernardo, Anführer der Sharks, zum alles entscheidenden Duell herausfordern. Dazu holt er sich Hilfe von seinem besten Freund Tony, der die Jets einst mit ihm gegründet hat, aber längst aus der Szene ausgestiegen ist und mit den Krawallen nichts mehr zu tun haben will. Riff zuliebe lässt er sich dennoch breitschlagen, ihn zu einer abendlichen Tanzveranstaltung in der lokalen Turnhalle zu begleiten, wo auch die Sharks zugegen sein werden und Zeit und Ort für die Entscheidungsschlacht ausgemacht werden sollen. Dort verliebt sich Tony jedoch auf den ersten Blick unsterblich in María, Bernardos Schwester. Trotz der Umstände kommen sich die beiden immer näher – doch das Unheil nimmt bereits seinen Lauf, und ihre Liebe steht unter keinem guten Stern …

„Life is alright in America, if you’re all-white in America”

Von einem derart vielseitigen, routinierten und kompetenten Regisseur war es fast nicht anders zu erwarten, dennoch ist es erfreulich anzuschauen, dass Spielberg sich nicht mit einer bloßen Kopie des Originalfilms begnügt, sondern zu praktisch jeder Szene und jedem Song einen eigenen visuellen und kontextuellen Zugang findet. Dabei folgt er nicht blind der Struktur der ersten Filmversion, sondern schöpft auch aus der Bühnenfassung. Sogar eingefleischte Musicalliebhaber können so die ein oder andere Überraschung erleben.

Überhaupt fungiert Tony Kushners scharfsinniges Drehbuch in vielerlei Hinsicht sowohl als Update als auch als Erweiterung des Originals. So erhält Tony ein bisschen mehr Backstory, was einige der problematischeren Stellen ein wenig glattbügelt und seiner Figur einen klareren Spannungsbogen verleiht. Bernardo ist nun ein erfolgreicher Boxer, der seinen aus Puerto Rico mitgebrachten Machismo hier in Manhattan nur noch bewusster kultiviert. Auch viele weitere Figuren werden stringenter gezeichnet. Das gilt jedoch auch für den sozialkritischen Subtext. ‚Juvenile Delinquency‘, also Jugendkriminalität, war gerade in den USA der 50er und 60er Jahre ein großes und vieldiskutiertes Thema, für Musicals jedoch Neuland. West Side Story beschäftigt sich mit den Ursachen, und dies in Spielbergs Verfilmung umso deutlicher: Die Jets sind die letzten Überbleibsel einer Generation von Versagern, die die Schattenseiten des amerikanischen Traums kennenlernen mussten, denen das Schicksal übel mitgespielt hat und für die sich einfach niemand wirklich interessiert (ein Umstand, der in dem Song „Gee, Officer Krupke“mit viel Galgenhumor aufgegriffen wird). Im Rahmen des neuen Gentrifizierungs-Subplots wird diesen perspektivlosen Jungs bald auch das einzige genommen, was sie noch haben: ihr Grund und Boden. Wie so oft richten sich Frustration und Wut über strukturelle Ungerechtigkeit nicht nach oben zu den unerreichbaren, wohlhabenden New Yorkern, die dieses Viertel nach seiner Transformation ‚erben‘ werden, sondern stattdessen auf die ‚Fremdlinge‘: die puerto-ricanischen Sharks, die als feindliche Eroberer fehlinterpretiert werden. Dabei haben die Sharks selbst mit unverhohlenem Rassismus, selbst von Autoritätspersonen, zu kämpfen. Bernardos Freundin Anita versteht sich als Einheimische, obwohl ihr an jeder Ecke klargemacht wird, dass sie nicht erwünscht ist. So sprengt Spielberg die Grenzen des Hit-Songs „America“, der im Original etwas klaustrophobisch auf dem Dach des Wohnkomplexes der Sharks inszeniert wurde, und expandiert ihn zu einem Tanzspektakel auf offener Straße, wobei die in den Texten angelegten sozialkritischen Inhalte stärker zum Vorschein treten. Die Taten der Gangs sind nicht zu entschuldigen, doch in diesem Film versteht man sie besser als je zuvor.

Ein wenig gehen gelegentlich die Nebencharaktere unter. Im Original hatte man schnell das Gefühl, jeden Shark und jeden Jet zu kennen – dies bleibt hier, trotz des extrem starken Ensembles (viele davon tanz- oder theatergeschult), zunächst aus. Dafür finden sich auch hier lobenswerte Neuerungen: Wurden im Original Natalie Wood und George Chakiris noch mittels brauner Farbe zu Puerto Ricanern gestylt, werden nunmehr alle Figuren von Darstellern gespielt, die einen entsprechenden Hintergrund mitbringen. Zudem wird Anybody, im Original eher ein burschikoses Mädchen, diesmal von Transmann Ezra Menas verkörpert und outet sich auch innerhalb des Films explizit als trans (bzw. so explizit, wie dies in den 50er Jahren eben formuliert worden wäre). Mit untrüglichem Gespür findet Spielberg in diesem Stoff die Momente, die ihn zeitlos machen und uns auch heute noch ansprechen, und koppelt sie künstlerisch an die Gegenwart. Unterstützt wird er dabei durch den flüssigen Schnitt von Michael Kahn und die großartige Kameraarbeit von Janusz Kamiński. Intime Nahaufnahmen und Handheld-Plansequenzen geben dem Film einen fast schon dokumentarischen Anstrich, der für die Szenen der Verliebten mit einem fantastischen, hoffnungslos romantischen Flair abgelöst wird. So kommt für die Szene, in der Tony und María sich das erste Mal begegnen, auch ein typischer ‚Spielbergismus‘ in Form von Scheinwerfern zum Einsatz, die alles in unwirkliches Licht tauchen. Insgesamt betont Spielberg jedoch deutlich weniger den pittoresken Zauber der New Yorker West Side und bedient sich für seine Fassung einer realitätsnäheren, dreckigeren und auch trostloseren Ästhetik. Nicht jede seiner Entscheidungen trifft ins Schwarze, doch es entsteht ein am Ende sehr runder Gesamteindruck. Das im Original etwas unbeholfene Bild von taffen Gangs, die fingerschnippend und pirouettendrehend durch die Straßen ziehen, wird zwar beibehalten, der Spagat zwischen blutigem Sozialdrama und Musical gelingt hier jedoch mit mehr Leichtigkeit, da Spielberg einen frischen, unverstellten Blick auf den Stoff eröffnet. Dies ist wirklich eine West Side Story für eine neue Generation.

„There’s a place for us …”

West Side Story steht und fällt aber mit den Hauptdarsteller*innen. Zum Glück hat Spielberg auch bei der Besetzung ein glückliches Händchen bewiesen: Mike Faist gibt einen trotz allem sehr liebenswerten, glaubwürdigen und verlorenen Riff, sein Gegenspieler David Alvarez einen bedrohlichen, aber auch leidenschaftlichen Bernardo. Die blutjunge Rachel Zegler in ihrem Debüt erfüllt María gleichermaßen mit Naivität und Biss, und hört man sie erst einmal „Tonight“ singen, liegt auf der Hand, warum sie bereits für Disneys Realverfilmung von Schneewittchen gecastet wurde. Mit Rita Moreno konnte man sogar einen der Stars des Originals gewinnen: Damals Anita, spielt die lebende Legende nun Valentina, eine neue Figur, welche die Funktion einer Vertrauten einnimmt, die in den früheren Versionen ‚Doc‘ innehatte.

Für sie hat Spielberg einen ganz besonderen Moment spät im Film reserviert, der für Fans zunächst gewöhnungsbedürftig sein könnte, aber überraschend effektiv ist. Allein Jungstar Ansel Elgort wirkt mit dem Material ein wenig überfordert. Er mimt zwar authentisch den blauäugigen, zuversichtlichen Tony, kann aber mit seinem etwas hölzernen Spiel nicht durchweg überzeugen und einen Song wie „Maria“ auch stimmlich nicht ganz tragen. Allen die Show stiehlt aber sowieso Ariana DeBose in der dankbaren Rolle der Anita. DeBose, die zuvor bereits im Ensemble von Hamilton und in der Musical-Verfilmung The Prom zu sehen war, dürfte noch eine große Karriere vor sich haben: In „A Boy Like That/I Have a Love“, einem der wenigen live am Set gesungenen Songs, trifft sie jede Note der emotionalen Klaviatur und legt eine Menge Feuer in jede ihrer Szenen. Zudem tanzt sie umwerfend gut. Überhaupt sind die Tanzszenen unfassbar präzise und mitreißend geraten, und wenn dann noch der venezolanische Stardirigent Gustavo Dudamel, der diesen Score kennt wie seine Westentasche, der von David Newman originell neu arrangierten Musik wie gewohnt jugendlichen Esprit verleihen darf, entsteht wahre Musicalmagie.

Fazit

Wären Remakes doch nur immer so gut! Jeder Liebhaber kann mit Spielbergs Neufassung einen altbekannten Stoff auf spannende Art und Weise ganz neu entdecken, während Neulinge rasant erfahren dürfen, warum es sich zurecht um einen zeitlosen Klassiker handelt. So erlebt man Musical selten!

Fotos: © Disney

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