Julia Kröhn

Belletristik-Couch-Redakteurin Monika Wenger sprach mit Julia Kröhn über ihren neuen Roman „Papierkinder“.

"Ich finde, dass Kinder in Romanen weitaus mehr sein müssen als der liebe, süße „Zuckerguss“, der für positive Emotionen sorgen soll."

Belletristik-Couch.de:
Sie sind Historikerin und sie lieben nach eigenen Angaben das Reisen genauso, wie das Geschichten erzählen. Diesen Leidenschaften konnten Sie bei den Recherchen zum neuen Roman "Papierkinder" vermutlich nachgehen. Denn die Voraussetzungen für die Arbeit der drei Protagonistinnen konnten nicht unterschiedlicher sein. Abgesehen von den widrigen Umständen spielte auch der gesellschaftliche Status der Frauen eine wesentliche Rolle für das Erreichen ihrer Ziele. Diese vielen Aspekte haben Sie in den Roman aufgenommen und daraus eine berührende Geschichte geschaffen.
Wie haben sich die Vorarbeiten zu diesem Roman dargestellt, wieviel Recherche war nötig – und wie und wo haben Sie entsprechende Quellen gefunden?

Julia Kröhn:
Die Recherche für einen Roman basiert bei mir immer auf zwei Säulen: viel zu reisen und viel zu lesen. So habe ich Schauplätze in Berlin, London und Genf, die eine zentrale Bedeutung im Leben meiner Protagonistinnen spielten, aufgesucht. U.a. bin ich auch an Eglantyne Jebbs Grab gestanden, das war ein sehr berührender Moment. Darüber hinaus lese ich mich immer sehr gründlich in meine Themen ein, gehe hier so gründlich vor wie eine Wissenschaftlerin und verbringe viele, viele Stunden in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt.

Belletristik-Couch.de:
Welchen Herausforderungen mussten Sie sich dabei stellen? Ich denke dabei an den Zugang zu Archiven und historischen Dokumenten. Vielleicht gab es auch die eine oder andere Überraschung auf Ihren Reisen und an den Originalschauplätzen?

Julia Kröhn:
Eine besondere Herausforderung bei diesem Thema bestand darin, dass es gerade in Hinblick auf Emma Döltz und Clara Grunwald nur wenig Sekundärliteratur gibt, ich hier also wirklich Detektivarbeit leisten musste, um ihre Lebensläufe zu rekonstruieren. Eine große Hilfe war hier u.a. die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, wo Emma Döltz‘ Nachlass aufbewahrt wird.
Was die Recherchereisen anbelangte, traf ich an den Originalschauplätzen nicht immer die passende Kulisse an. Das Haus, in dem Emma Döltz einst in Berlin gelebt hat, ist zwar weitgehend unverändert (wenngleich mit zahlreichen Graffitis bemalt), aber anstelle einer der Schulen, wo Clara Grunwald unterrichtet hat, befindet sich nun ein Asia Restaurant.

Belletristik-Couch:
Wussten Sie von Anfang an, wie Sie die Erzählung aufbauen möchten, oder ergab sich dies mit der Recherche oder sogar erst bei dem Schreibprozess?

Julia Kröhn:
Ich bin das Gegenteil einer Bauschreiberin, d.h. ich arbeite mit einem strikten Gerüst – einem Szenentreatment. Anders würde ich die Fülle an Rechercheergebnissen wohl gar nicht in eine Handlung integrieren können. Ich betrachte das wie beim Hausbau: Bevor der erste Ziegelstein auf den anderen gesetzt wird, haben die Architekten schon viel Vorarbeit auf dem Papier geleistet.

Belletristik-Couch.de:
Das Mädchen Ida erlebt eine unglaubliche Kindheit. Unter anderem lebt sie auf Berlins Straßen. Wie haben Sie sich an ihre Figur herangetastet?

Julia Kröhn:
Ich tue mich wesentlich leichter, über Kinder zu schreiben, seit ich selbst Mutter bin, weil man so einen viel realistischeren Einblick in ihre Gefühlswelt erhält und vielen Klischees entgeht. Natürlich wächst meine Tochter ungleich privilegierter und geborgener auf als Ida. Deswegen musste ich viele Berichte über traumatisierte Kinder lesen, die in dysfunktionalen Familien aufwachsen, um ein Gespür zu bekommen, wie extrem dick der Panzer dieser Kinder ist und wie schwer aufzubrechen.

Belletristik-Couch.de:
Werden Sie das Thema der Kinderrechte in irgendeiner Form weiterverfolgen?

Julia Kröhn:
Auf jeden Fall. Ich finde, dass Kinder in Romanen weitaus mehr sein müssen als der liebe, süße „Zuckerguss“, der für positive Emotionen sorgen soll. Im Moment arbeite ich an einem Buch über ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der Kinderpsychologie. Sigmund Freuds Tochter Anna gilt als Pionierin der Kindertraumatherapie, und ihre Erkenntnisse haben den Umgang mit den Kindern in der Nachkriegszeit geprägt. Ganz langsam entstand damals ein Bewusstsein dafür, dass nicht nur der Körper, auch die Seele heilen müsste. Und das verknüpfe ich mit einem sehr aktuellen Thema – leiden doch auch heute noch viel zu viele Kinder unter den Folgen traumatischer Erlebnisse und sind auf fachkundige Menschen angewiesen, die ihnen mit Liebe und Verständnis einen Weg zurück in die Normalität bahnen.

Belletristik-Couch.de:
Nach einer solch intensiven Phase des Recherchierens und des Schreibens müssen Sie ihre Figuren wieder loslassen. Wie gelingt Ihnen dies?

Julia Kröhn:
Wenn ich ein fertiges Buch in der Hand halte, habe ich nicht das Gefühl, dass ich meine Figuren loslasse – eher, dass ich sie meinen Leser überreiche in der Hoffnung, dass diese genauso wertschätzend mit ihnen umgehen und von ihren Lebenswegen berührt werden wie ich. Auch lange nach Abschluss eines Manuskriptes bleiben mir die Figuren nah.

Das Interview führte Monika Wenger im Dezember 2023.
Foto: © Sarah Kastner

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