Mutternichts

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Carola Krauße-Reim
881001

Belletristik-Couch Rezension vonMär 2024

Schreiende Fragen in lärmender Stille.

Christine Vescoli wurde 1969 in Bozen geboren. Nach dem Studium der Deutschen Literatur und Kunstgeschichte und nachfolgend unterschiedlichen Beschäftigungen, arbeitet sie heute als Publizistin in Bozen und ist Leiterin und Kuratorin der Literaturtage Lana. „Mutternichts“ ist ihr erster Roman.

Die Mutter ist tot

Krank und dennoch plötzlich verstirbt die Mutter. Zurück bleibt eine Tochter, die Fragen hat, doch nun ist die Zeit der Antworten vorbei. Die Tochter macht sich auf den Weg in das abgelegene Tal in Südtirol aus dem die Mutter stammt. Doch auch da sperren sich die Antworten. Immer drängender wird der Wunsch, herauszufinden, warum die Mutter damals, als kleines Kind, weggeben wurde – nicht zur Pflege oder Adoption, sondern in einen Nachbarhof um dort als Magd zu arbeiten und nie wieder ein Mitglied der Familie zu werden. Warum hat die Mutter immer geschwiegen, warum hat die Tochter nie gefragt?

Sprach- und fragenlos

Christine Vescoli beschreibt die erbarmungswürdige Kindheit der Mutter ergreifend. Die ganze Grausamkeit der Verlassenheit versucht diese durch auswendig gelernte Lieder und Gedichte zu kompensieren. Sie schreit sie in die Einsamkeit hinaus, wagt nicht den Vater, den sie immer sieht, nach Gründen für diese Misere zu fragen.

„Warum, Mutter, hast du statt Gedichte gegen die Kälte nicht gegen deinen Vater geschrien? … Die Frage hat meine Mutter immer nach innen gerichtet. Immer nach innen ging sie in ihrem Kopf, wo sie sie nicht hergeben musste. Ihre Eltern durften sie nicht hören. Niemand durfte sie hören. Sie gehörte ihr.“

Diese Sprachlosigkeit zieht sich durch ihr ganzes Leben.

„Für die Frage und das Unvermögen, die Frage nicht genug begraben und sie nicht tief genug versenkt zu haben, sodass sie immer wieder aufstieg, sich von Grund löste und durch ihr Leben durchschimmerte, ohne dass sie sich zeigte. Dann schämte sich meine Mutter wieder für die Schuld.“

Das Unausgesprochene lässt die Tochter fragend zurück, die nie den Mut aufbrachte, nachzuhaken, warum die Mutter manchmal gedanklich abwesend war, warum sie nie über ihr früheres Leben sprach.

„… weil wir uns an deinem Schmerzpunkt nie mit Worten erreichten und eher die Zungen abbissen, als zu fragen. Unsere am Metall des Schweigens klebenden Zungen, die geblutet hätten, hätten wir sie davon abgerissen.“

Nun ist die Mutter tot - „Sie schwieg mit der ganzen Macht der Toten“. Das entstandene „Mutternichts“ ist Grundlage für die Nachforschungen der Tochter. Die Frage warum die Mutter ohne jeglichen Grund als Kind in eine räumlich kaum entfernte Familie gegeben wurde, ist absolut drängend.  „Manchmal stieg dennoch die Frage nach dem Warum auf. Weiß Gott woher. Dann fühlte sich das Kind schuldig. Die Frage stülpte sie um wie ein Sack.“ Doch Antworten zu finden, ist nicht leicht. Das „Mutternichts“ hält sich kraftvoll und hartnäckig und vielleicht muss die namenlose Tochter damit leben.

Ebenso anspruchsvoll wie ergreifend

Die Geschichte wirkt wie der distanzierte Bericht einer Tochter. Es ist nicht einfach, in diese Ich-Erzählung einzusteigen. Nicht immer ist das Erzählte nahbar oder gar durchgängig, meistens sind es Gedanken oder Momentaufnahmen, die von der Leserschaft höchste Aufmerksamkeit verlangen. Die Tochter verliert sich oft in Gedankengängen. Die unterschiedlichen Phasen der Familie, von der Urgroßmutter bis zur eigenen Kindheit der Erzählerin, sind dadurch nicht chronologisch gehalten, es geht hin und her in Zeit und Personenzusammenstellung.

Auch der Stil ist anspruchsvoll, sprachgewaltig, poetisch. Auf wörtliche Rede muss man daher komplett verzichten. Dennoch schafft es Christine Vescoli einen fesselnden und tief beeindruckenden Roman abzuliefern. Das „Mutternichts“ lässt nicht mehr los und man ist versucht, die nicht einmal 200 Seiten in einem Rutsch zu lesen, um nichts zu verpassen, um die Geschichte nicht zu verlieren.

Fazit

Sprachgewaltig, poetisch, berührend – das ist die Geschichte der Tochter, die das „Mutternichts“ aufzufüllen versucht. Christina Vescoli ist ein Roman gelungen, der nicht einfach zu lesen und nicht leicht zu verdauen ist, sich aber im Kopf festsetzt und lange nachhallt.

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