Sie kam aus Mariupol

  • Argon
  • Erschienen: Januar 2017
  • 0
  • Berlin: Argon, 2017, Übersetzt: Dagmar Manzel, Bemerkung: gekürzte Ausgabe
Sie kam aus Mariupol
Sie kam aus Mariupol
Wertung wird geladen
Rita Dell'Agnese
951001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2017

Auf Spurensuche

Zweifellos ist dieses Buch die Aufarbeitung einer Geschichte - nein, mehrerer Geschichten. Was die Autorin Natascha Wodin hier präsentiert, ist primär das Schicksal einer Familie, die in den schwierigsten Jahren des 20. Jahrhunderts manche Stürme über sich ergehen lassen muss. In diesem biographischen Roman geht es aber auch um ein Stück sowjetischer Geschichte, um die Geschichte der Ukraine und um ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte Deutschlands. Hält man sich vor Augen, dass damit nahezu alles Schwere und Düstere des 20. Jahrhunderts auf dem Werk lastet, müsste man davon ausgehen, dass es ein schwieriger Kampf sein würde, sich durch Sie kam aus Mariupol durchzuarbeiten. Doch weit gefehlt. Mit nahezu hypnotischer Wirkung lässt Natascha Wodin ihre Leser in das Buch eintreten. Selten gelingt es einem Werk, schon mit den ersten paar Sätzen eine solch intensive Bindung zwischen Leser und Buch aufzubauen. Unspektakulär und zugleich unwiderstehlich der erste Satz:

 

"Dass ich den Namen meiner Mutter in die Suchmaschine des russischen Internets eintippte, war nicht viel mehr als eine Spielerei."

 

Damit macht Natascha Wodin die Tür zur Geschichte nicht nur weit auf - sie zieht den Leser regelrecht mitten ins Geschehen hinein. Schritt für Schritt erlebt der Leser durch die Augen der Autorin mit, wie sich die Schleier über dem Schicksal der Familienmitglieder hebt. Immer wieder sind es kleinste Anhaltspunkte, die schließlich wie ein Fadenende ergriffen und nach und nach aufgerollt ein Ganzes ergeben. Und wenn nicht ein Ganzes, so doch wenigstens ein so gut erkennbares Bild, dass die Phantasie die Lücken zu schließen vermag.

Sie kam aus Mariupol erzählt an sich die Geschichte der Mutter, die sich 1956, vom Leben zermürbt, dem Tod in der Regnitz überlässt. Vorausgegangen sind bittere Jahre der Deportation aus der Ukraine, der Zwangsarbeit in Leipzig und des Lebens in einem Ghetto, unerwünschte Überbleibsel eines Krieges, vor dem man endlich die Augen verschließen möchte und dessen Gräuel sich nach den bitteren Jahren niemand mehr stellen mag. Die beiden in der Wohnung zurückgelassenen Töchter, zu diesem Zeitpunkt 10 und 4 Jahre alt, verlieren nach und nach die Erinnerung an die gebrochene Frau, die Unerwünschte in einem fremden Land, von ihrem Mann verlassen, der sich als Sänger fernab der Familie eine neue Existenz sucht. Dennoch mag die ältere der beiden Mädchen, Natascha nicht aufgeben. Sie sucht nach dem Hintergrund ihrer Mutter, zunächst nur oberflächlich, dann immer beharrlicher. Die Spuren verdichten sich und so offenbart sich der Suchenden eine düstere Geschichte voller Schmerz, Verlust, Verzweiflung und Zwang. Beherzt und voller Empathie, mit einer großen Portion Offenheit, breitet Natascha Wodin die Biographie ihrer Mutter nach und nach vor dem Leser aus. Und steuert gar eigene Erfahrungen als Kind von einstigen Zwangsarbeitern, deren Rückkehr in die Heimat unmöglich ist, bei. Die Überlebensstrategie, die sich das Kind Natascha zulegen musste, um ständigen Prügeln nach Möglichkeit zu entgehen, mündet glücklicherweise nicht in Bitterkeit. Die Geschichte bleibt weitgehend unbelastet von Wut und Frustration des einst verfolgen Kindes, wenngleich die nackte Tatsache des drangsaliert werdens bei vielen Lesern just diese Gefühle wachrufen dürfte.

Die Suche nach der Vergangenheit der Mutter mündet im Finden von unerwarteter Wahrheit. Und damit das Offenlegen einer Situation, die wenigen Lesern in diesem Ausmaß bewusst gewesen sein dürfte. Das Erschrecken wird nur deshalb nicht auf die Spitze getrieben, weil die Autorin die Feder mit viel Überlegung und großer Kraft führt. Die reine Recherche liest sich spannend und überraschend, das sich nach und nach abzeichnende Portrait der Familienmitglieder sind wie kleine Juwelen, die ihren Glanz im Scheinwerferlicht des Schreibens von Natascha Wodin erst richtig entfalten.

Die facettenreiche und so persönliche Biographie ihrer Mutter und deren Familie offenbart Natascha Wodins Talent, eine Geschichte zu erzählen. Alle notwendigen Elemente sind vorhanden und darüber hinaus streut die Autorin so viele überzeugenden Details ein, dass es nicht verwundern vermag, weshalb just dieses Buch unter anderem mit dem Alfred-Döblin-Preis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden ist. Sie kam aus Mariupol ist ein berührendes und zugleich informatives, ja aufklärerisches Buch, das man gerne immer wieder zur Hand nimmt und dessen Inhalt sich tief im Bewusstsein verankert.

Sie kam aus Mariupol

Natascha Wodin, Argon

Sie kam aus Mariupol

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »Sie kam aus Mariupol«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Film & Kino:
The Crown - Staffel 3

Die Queen in ihrer vordergründig repräsentativen Rolle ist eine zeitgeschichtliche Ikone, sodass der Erfolg der seit 2016 bei Netflix laufenden Serie „The Crown“ nicht verwundert. Die dritte Staffel markiert allerdings einen Umbruch: Die Royal Family ist in den 60er-Jahren angekommen und viele Rollen werden neu besetzt, da auch die Blaublüter nicht vor dem Altern gefeit sind. Titel-Motiv: © Des Willie / Netflix

zur Film-Kritik