Rabenfrauen

  • Berlin: Der Audio Verlag, 2016, Seiten: 6, Übersetzt: Marie Gruber, Marion Martienzen, Birte Schnöink
Rabenfrauen
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Rita Dell'Agnese
901001

Belletristik-Couch Rezension vonJan 2016

Ein berührendes Portrait der Sekte Colonia Dignidad

Geschlagen und missbraucht, eingesperrt und ausgenutzt: Die Liste des Grauens für die Bewohner der Colonia Dignidad ist lang. Was als Reise voller Hoffnung begonnen hat, wurde für mehr als hundert Menschen aus Deutschland und ihre Nachkommen zum Albtraum. Der Gründer der Siedlung, Paul Schäfer, ist ein charismatischer Mensch, der es versteht, Gläubige um sich zu scharen. Nach einigen Straftaten wird er aus einer christlichen Gemeinde ausgeschlossen und gründet daraufhin selber eine freikirchliche Gemeinschaft. Geschickt wählt er seine Vertrauten aus, die absolut loyal zu ihm stehen. Die Gemeinschaft, die sich zusammen gefunden hat, folgt Paul Schäfer, als er ein mehrere hundert Quadratkilometer großes Grundstück in Chile kauft, um dort eine autarke Kolonie aufzubauen. Hier setzt die Autorin Anja Jonuleit mit ihrer Geschichte ein - erzählt durch fiktive Figuren. Eine der von ihr skizzierten Frauen, die voller Hoffnung auf ein gutes Leben nach Chile reisen, ist Christa. Sie lässt ihre beste Freundin Ruth zurück. Ruth, die in denselben Mann verliebt ist, wie Christa, erkennt gerade rechtzeitig, welchen Charakter die Gemeinschaft von Paul Schäfer wirklich hat. Sie versucht, Christa davon abzuhalten, nach Chile auszuwandern. Doch diese will nicht hören. Sie heiratet Erich, einen der Gefolgsmänner von Paul Schäfer. Ruth wagt es nicht, Christa die Wahrheit über Erich zu sagen und macht sich jahrelang Vorwürfe. Ihr Schweigen - so glaubt sie - machte es erst möglich, dass Christa in die Colonia Dignidad auswanderte. Jahrzehnte später kommt Ruths Tochter Anne in Kontakt mit einer jungen Familie, die aus Chile nach Deutschland eingewandert ist. Obwohl Ruth versucht, den Kontakt zu verhindern, erkennt Anna, dass die Familie traumatisiert ist. Sie erfährt zum ersten Mal von der Colonia Dignidad und dem Leben dort. Je mehr sie hört, desto intensiver beginnt sie sich mit der Sache zu beschäftigten. Dabei stößt sie auf ein Geheimnis von Ruth, das die letzten Jahrzehnte in ein völlig neues Licht rückt.

Die Autorin Anja Jonuleit hat sich nicht nur eines besonderen Themas angenommen, sie wählt auch eine besondere Art, die Geschichte zu erzählen: Letztlich aus drei Perspektiven. Zum einen ist es die Sicht der bereits etwas reiferen Anne, die eben ihren Lebenspartner verloren hat und beim Versuch, die Trauer am Ort des Unfalls zu bewältigen, mit einer aus Chile zugewanderten Familie Kontakt bekommt. Anne steht für die Leute, die kaum etwas über die Colonia Dignidad wissen und mit großem Entsetzen auf die Schilderungen der Betroffenen reagieren. Dann sind weite Teile aus der Sicht von Annes Mutter Ruth erzählt. Sie erlebte die Gemeinschaft in Deutschland und musste hilflos zusehen, wie Menschen, die ihr wichtig waren, dem Sog nicht wiederstehen konnten. Ruth erzählt aus der Sicht einer Skeptikerin, die schon früh die Machenschaften von Paul Schäfer durchschaute und sich rechtzeitig aus dem Umfeld der Gemeinschaft zurückzog. Schließlich ist auch Christa eine Erzählerin - als eine der Frauen, die mit der Gemeinschaft ausgewandert sind. Christa übernimmt den Part, von den Schrecken in der Kolonie zu berichten. Diese drei auf einander abgestimmten und ineinander übergreifenden Erzählungen bilden zusammen eine spannende und berührende Geschichte, die weit unter die Oberfläche taucht und den Leser letztlich nachdenklich zurück lässt.

Anja Jonuleit nutzt Anne und ihr persönliches Schicksal quasi als Einstiegshilfe in das Thema. Hier stellt sich die Frage, ob dieser Teil nicht zu stark abfällt gegenüber den Schilderungen von Ruth und Christa. Die Autorin hat ein so starkes Bild der beiden jungen Freundinnen Ende der 50er Jahre gezeichnet, dass die Geschichte von Anne etwas abflacht und sich immer wieder die Frage stellt, ob sie wirklich nötig ist. Es mag deshalb auch nicht erstaunen, dass die Figur Anne wesentlich weniger tiefgründig ist, als Ruth und Christa.

Der Roman Rabenfrauen gehört zu den Büchern, die nicht nur während des Lesens unterhalten, sondern auch neugierig machen auf die Geschichte, die dem ganzen zugrunde liegt. Anja Jonuleit hat es hervorragend verstanden, etwas zu erzählen, das den Hunger nach mehr weckt. Mehr Informationen über die Colonia Dignidad, aber auch mehr von der Autorin selber. Die leichtfüßige Schreibweise, die wunderbar aufgebaute Szenerie und die subtil erzählte Geschichte sind Zeugen einer gekonnt umgesetzten Buchidee. Anja Jonuleit legt mit diesem Roman viel vor und bestätigt die Qualität als Autorin, die bereits bei den bisher veröffentlichen Werken der Autorin deutlich wurde.

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