Gehen, ging, gegangen

  • Hamburg: HörbuchHamburg, 2015, Übersetzt: Friedhelm Ptok , Bemerkung: ungekürzte Ausgabe
Gehen, ging, gegangen
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Sebastian Riemann
861001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2015

Ambitionierte Literatur, gegenwärtig und stark

Richard trinkt zum Frühstück eine Tasse Earl Grey mit Zucker und Milch, so wie es sich gehört, und isst Toastbrot, am Sonntag noch ein Ei dazu. Ruhig geht er die Tage an, da er sich seit Kurzem im Ruhestand befindet, nicht mehr zur Arbeit an der Universität eilen muss, um jungen Studenten Neues über alte Sprachen beizubringen. Professor emeritus. Er lebt allein am Rande Berlins an einem See, in dem er nicht baden kann, weil dort ein Badender ertrunken ist und seitdem den Spaß aus dem Wasser getrieben hat. Das ist sein größtes Problem, er kann nicht in den See. Gespenstisch ist die Vorstellung, der Tote könne an die Oberfläche geraten, wenn man selbst sich vergnügt und ein paar Bahnen schwimmt. Also meidet Richard den See. Mit seiner Zeit weiß er zunächst nicht viel anzufangen, die Beendigung seiner Arbeit an der Universität trifft ihn unvorbereitet, irgendwie hatte er sich das wohl anders vorgestellt. Was wird er nun machen?

Durch die Medien wird er auf protestierende Asylsucher in Berlin aufmerksam, die auf ihre prekäre Situation hinweisen wollen. Eigentlich sollten sie nicht in Berlin sein. Recht und Ordnung verbieten es ihnen. Laut Regelung müssen sie Asyl dort beantragen, wo sie zuerst europäischen Boden betreten, und das war in ihrem Falle Italien, welches sie auf dem Seeweg von Libyen erreichten, nachdem dort das Gaddafi Regime zusammenbrach. Dublin Verordnung nennt sich das Abkommen der europäischen Staaten, um die Zuständigkeit des Asylrechts zu regeln. Und laut Dublin Abkommen müssen die Männer, die im Zentrum Berlins protestieren, zurück nach Italien. Das wollen sie jedoch nicht. Stattdessen wollen sie in Deutschland bleiben und sich dort Arbeit suchen. Auf dem Oranienplatz in Kreuzberg errichten sie ein Camp, leben dort in Zelten und versuchen die Öffentlichkeit zu erreichen. Nicht nur Schnee und Kälte sind sie ausgesetzt, sondern auch Anfeindungen von Personen, die ihren Protest verurteilen. Richard aber erreichen sie. Der alte Professor für alte Sprachen ist beeindruckt von den jungen Afrikanern.

Als die Camper vom Oranienplatz auf verschiedene Einrichtungen in Berlin verteilt werden, trifft es sich, dass ein Teil von ihnen in einem Seniorenheim ganz in der Nähe von Richards Haus am See untergebracht wird. Professor emeritus nimmt die Gelegenheit wahr, stellt sich bei den Männern aus Afrika vor und beginnt sie zu interviewen. Auf diese Art fördert er viele Biographien zutage. Aus den anonymen, fremden Protestierern werden Personen mit einer Geschichte. Und es entstehen Freundschaften.

Jenny Erpenbeck ist eine ambitionierte Schriftstellerin, sie schreibt nicht über Belanglosigkeiten oder Kleinigkeiten. Deshalb findet man in ihrem Buch keine überflüssigen Ausschmückungen. Sie greift die Realität auf, einen problematischen Aspekt der Realität, der für Aufsehen sorgte und bei genauerem Betrachten viel Unbehagen hervorrufen kann. Nach Grundwerten unserer Gesellschaft fragt sie, nach Menschlichkeit und Verständnis. Einzelne Schicksale von Flüchtlingen macht sie fassbar und holt somit Personen auf die Bühne, die sonst hinter einem Vorhang warten müssen, weil sie keine Erlaubnis haben. Erpenbeck kritisiert bestehende Ungerechtigkeiten, zeigt Alltagsrassismus in Deutschland und sogar eine mögliche Lösung der Problematik. Dafür gebührt ihr viel Respekt und auch Applaus. Ihre Literatur will sich mit den Ereignissen verbinden, will Position beziehen und nicht nur unterhalten. Damit unterscheidet sie sich vom Heer der Schriftsteller, die darauf bestehen sich nicht in die Verwicklungen der realen Geschehnisse einzulassen. Gehen, ging, gegangen ist ohne Zweifel ein Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte und in der gegenwärtigen Situation von großer Brisanz. Deshalb stand das Buch zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises – und gewann den Preis nicht.

Die Geschichte von Richard und den Asylsuchern lebt von ihrer Intention, den interkulturellen Dialog zu zeigen, Nähe und Verständnis zu erzeugen. Sie richtet sich ausdrücklich gegen den Alltagsrassismus, den man in Deutschland kennt und der besonders leicht in den Kommentarbereichen der Online-Zeitungen zu finden ist. Fremdenfeindlichkeit hat wieder Hochkonjunktur in Deutschland und in Europa. Das vorliegende Buch nimmt dieses Problem ernst, zitiert Aussagen aus dem Internet, gibt Beschimpfungen wieder, lässt auch die ablehnenden Stimmen zu Wort kommen, und diskutiert all dies mit dem Leser. Es setzt sich explizit mit realen Ängsten und Anfeindungen auseinander. Die Ambition dieses Buches ist großartig, wie bereits gesagt. Künstlerisch bezahlt die Autorin jedoch einen Preis für ihre gute, wichtige Intention. Aus dem Roman wird stellenweise eine Streitschrift, aus der Erzählung entflieht der Geist und Begründungen treten an seine Stelle. Das lässt sich kaum vermeiden. Und darüber darf man sich nicht wundern, sollte man sich nicht beschweren.

Würdig der Beschwerde ist hingegen die Eindimensionalität des Buches, zu der sich die Autorin hat verleiten lassen aufgrund der hektischen, aggressiven Diskussion in der Öffentlichkeit. Das Buch will um jeden Preis das Positive der Situation zeigen und verweigert sich einer realistischen Darstellung, die zwingend mehr Probleme aufzeigen müsste. Das Aufeinandertreffen zweier Kulturen unter schwierigen Bedingungen bringt Konflikte hervor, das kann man nicht ignorieren. Erpenbeck scheut aber den Konflikt, das zeigt sich an dem einzigen Problem, das es zwischen Richard und seinen neuen Freunden gibt, weil sie den Alltagsrassisten keine Vorlage geben will. Denn diese ignorieren ebenfalls die Konflikte, um von der Apokalypse sprechen zu können. Überlebenskampf, ruft das eine Lager, Freundschaft, das andere. Und keiner will die Konflikte akzeptieren, die es in allen zwischenmenschlichen Beziehungen gibt. Auch Erpenbeck nicht und das muss man ihr vorhalten in Bezug auf ihr hervorragendes Buch, das sich in die Realität wirft und gelesen werden sollte.

Gehen, ging, gegangen

Jenny Erpenbeck, HörbuchHamburg

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