Hamilton

Musical-Kritik von Yannic Niehr / Titel-Motiv: © Disney

Amerikanische Geschichtsstunde mit dem Sound von heute – und morgen

Uneheliches Kind, wird zur Vollwaise, aus einfachsten Verhältnisse – der in der Karibik geborene Alexander Hamilton hat keinen leichten Start ins Leben. Doch davon will er sein Schicksal nicht bestimmten lassen. 1776 emigriert er nach New York und bringt es zum Jurastudium ans King’s College (heute Columbia University), schließt sich dann jedoch der Revolution an. Sein politisches und rhetorisches Geschick lassen ihn schon bald zur rechten Hand Washingtons aufsteigen, und in den Wirren des Unabhängigkeitskrieges hilft er, das Blatt endlich zu wenden, indem er sich für einen entscheiden Sieg mitverantwortlich zeichnet. Auch in den bewegten jungen Jahren der neuen Nation hält er Washington die Treue und tut sich mit der Fülle seiner politischen Schriften zur in der Entstehung begriffenen Verfassung als wahres Arbeitstier hervor, sodass er schließlich zum Finanzminister ernannt wird und ein nicht unumstrittenes System entwickelt, das sein Vermächtnis werden soll.

Doch sein Ehrgeiz bricht ihm immer wieder das Genick, seine Meinungsverschiedenheiten mit dem kürzlich aus Frankreich zurückgekehrten Minister Thomas Jefferson spitzen sich zu, und auch ein privater Skandal soll seinen Ruf dauerhaft schädigen. Nicht zuletzt gerät er im Laufe der Jahrzehnte immer wieder mit seinem politischen Rivalen Aaron Burr aneinander, der eher mit Zurückhaltung und Opportunismus glänzt – ein Zug, den ihm der überambitionierte Hamilton als Rückgratlosigkeit auslegt. Letztendlich endet Hamiltons vielversprechende Karriere tragisch …

Was für eine Geschichte! Und doch gehört Alexander Hamilton nicht gerade zu den schillerndsten Figuren unter den amerikanischen Gründervätern. Neues Interesse an seiner Person wurde vor allem durch die fundiert recherchierte neue Biographie des Historikers Ron Chernow geweckt, die Lin-Manuel Miranda als Vorlage zu seinem Musical Hamilton diente, das in vor Livepublikum abgefilmter Fassung seit dem Independence Day auf Disney+ zu sehen ist. Eingeschlagen hat das Stück wie eine Bombe und ist seit seiner Premiere im Januar 2015 längst zu einem popkulturellen Phänomen geworden. Sogar vor Ex-Präsident Obama durfte die Broadway-Urbesetzung bereits auftreten. Wie lässt sich dieser Hype erklären?

„Immigrants: We get the Job done“

Mirandas musikalisches Idiom ist der Hip-Hop – auf Musicalbühnen eigentlich nach wie vor ein Novum, stellt dieses Musikgenre in Hamilton das hauptsächliche Kommunikationsmedium dar. Doch das ist nicht der einzige Clou dieser Show: Die gesamte Cast besteht beinahe ausnahmslos aus People of Color. Im Rahmen dieser Prämissen vollzieht sich eine Art umgekehrte kulturelle Aneignung: Menschen, die historisch konsequent ihrer Stimme beraubt und/oder unsichtbar gemacht wurden, werden rückwirkend in die amerikanische Geschichte eingeschrieben, an der sie von Anfang an beteiligt waren. Gerade jetzt, wo innerhalb der (amerikanischen) Gesellschaft derartige Umdeutungsprozesse hochbrisant von den aktuellen Umständen ins Rollen gebracht und emotional-brodelnd ausgefochten werden, erhält das noch einmal eine ganz neue Dimension.

Vorwerfen lassen muss sich das Stück höchstens dies: Bei aller Umdeutung wird dennoch ein Mythos weißer Machthaber perpetuiert, von denen einige bekanntlich Sklavenhalter waren. Überhaupt ist es auffällig, dass das Thema der Sklaverei kaum explizit erwähnt und (abgesehen von einem Song, der leider herausgeschnitten wurde) größtenteils ausgeklammert wird, wodurch problematischer Zündstoff entsteht. Doch mag Hamilton sich zum Teil zu unkritisch und idealistisch ausnehmen, hat es doch ganz klar ein politisches Gewissen und schreit geradezu danach, am Diskurs des Zeitgeistes – und an dessen Wandel, im Negativen wie im Positiven – teilzuhaben und immer wieder neu interpretiert zu werden. Die Herangehensweise der Show eröffnet natürlich auch ganze neue Möglichkeiten der Identifikation und kann sich so ein ungeahntes Publikum erschließen.

„History has its Eyes on You“

Die Idee, Geschichte in Hip-Hop zu kleiden, ist natürlich nicht gänzlich originell und könnte in den falschen Händen leicht zu einer peinlichen Anbiederung an die jüngeren Massen geraten. Zum Glück aber wissen die Beteiligten von Hamilton ganz genau, was sie tun. Wenn die Kabinettssitzungen als Rap-Battles inszeniert werden, ist das gleichzeitig unterhaltsam (auch wenn es das ein oder andere F-Wort nicht auf den Streamingdienst geschafft hat) und scharfsinnig . Lin-Manuel Miranda, der mittlerweile längst als kleines „Wunderkind“ gilt, hat bereits zuvor ein Hip-Hop-Musical (nämlich In the Heights) sowie die Musik für Disney’s Moana (zu Deutsch: Vaiana) geschrieben. Nicht nur variiert er ständig Tempo und Rhythmus, er fusioniert seine Raps außerdem mit Einflüssen aus u.a. R’n’B, Soul, Blues, Rock, Jazz und traditioneller Musicalmusik. Sein umfassendes Verständnis der Kunstform Musical zeigt sich in seiner intelligenten Komposition, doch auch seine Texte treffen ständig ins Schwarze.

Bedauerlich ist allerdings, dass bislang keine deutschen Untertitel verfügbar waren, denn eine Story, die im europäischen Raum vermutlich von vorneherein den wenigsten geläufig ist, wird nicht gerade weniger komplex, wenn sie einem mit gefühlt 100 Wörtern pro Sekunde um die Ohren gehauen wird. Das Libretto von Hamilton ist sehr dicht, sprudelt vor der atemlosen Energie einer Umbruchzeit und ist durchweht von rebellischem Spirit - was einen anfangs überfordern kann, aber schnell in seinen Bann zieht.

„Tomorrow there’ll be more of us“

So gut Lin-Manuel Miranda sein Stück auch konstruiert, darstellerisch ist er das schwächste Glied seiner Riege. Das ist bei dem Niveau der Cast zwar immer noch mehr Adelung als Kritik, doch obwohl Miranda einige der bombastischsten Songs zufallen (z.B. My Shot), bleibt sein Hamilton gelegentlich etwas undurchsichtig und blass und muss sich ständig von anderen die Schau stehlen lassen. Zuweilen findet ein interessantes Doppel-Casting statt: Anthony Ramos mimt im ersten Akt John Laurens, im zweiten Hamiltons Sohn Philipp (beide einfühlsam und charmant), Okieriete Onaodowans Hercules Mulligan könnte kaum unterschiedlicher sein als sein nüchtern-trockener Südstaatler James Madison, und Daveed Diggs erfüllt sowohl Lafayette als auch Thomas Jefferson mit jungenhaft-verschmitzter Lässigkeit – abgesehen davon, dass er seine Rap-Passagen (mit die halsbrecherischsten im Stück) auf den Punkt bringt und das auch noch leicht aussehen lässt.

Krasse Raps legt aber auch Renée Elise Goldsberry hin. Ihre politisch interessierte Angelica Schuyler geht eine Art intellektueller Beziehung mit Hamilton ein. Im herzzerreißenden Satisfied stellt sie ihr persönliches Glück jedoch hintenan und überlässt diesen ihrer Schwester Eliza, die ihn im erfrischenden Helpless ehelicht (der Song geht eine clevere Symbiose mit dem vorhergenannten ein, die hier nicht verraten werden soll). Eliza mausert sich nicht nur zur starken Frau an Hamiltons Seite, die im Zuge seiner Affäre und des dadurch entstehenden Skandals zu wahrer Größe und Stärke findet, sondern dank der makellosen Darbietung von Philippa Soo auch zu Herz und Seele des Stücks. Dagegen gerät Goldsberrys Angelica trotz ihrer großartigen Performance fast etwas in den Hintergrund wie schmückendes Beiwerk. Schade auch, dass Peggy, die dritte Schwester im Schuyler-Bunde, eher zur Witzfigur verkommt, obwohl ihr Leben durchaus auch spannenden Stoff geboten hätte. Allerdings darf ihre Schauspielerin Jasmine Cephas Jones im zweiten Akt als Hamiltons heimliche Geliebte stimmlich glänzen, deren gewalttätiger Ehemann ihn übel erpresst.

Besonders nuanciert spielt Leslie Odom Jr. seinen Aaron Burr, der sich durch Hamilton immer wieder in seiner Ehre gekränkt sieht, was schließlich auf einen verhängnisvollen Machtkampf hinausläuft. Die Undurchsichtigkeit seiner Figur ist klare Absicht, denn Burr ist eher ein Fähnlein im Wind, der erst spät in der Handlung sein Ziel definiert: In einem der besten Songs, The Room where it happens, wird ihm endlich klar, dass er mitmischen und Teil jener Hinterzimmerdeals sein will, die einen so großen Teil der Politik ausmachen, obwohl die Menschen, die von ihren Folgen betroffen sein werden, davon ausgeschlossen sind bzw. gar nichts ahnen – eine beängstigend zeitlose Szene. Als der Konkurrenzkampf mit Hamilton am Ende eskaliert, muss Burr (ähnlich wie Judas in Jesus Christ Superstar) resigniert feststellen, dass er sich dazu verdammt hat, nun auf ewig als der Schurke in dieser Geschichte betrachtet zu werden. Erwähnenswert ist außerdem die Stimmgewalt von Christopher Jackson als George Washington, dessen väterlicher Pathos der historischen Persönlichkeit jedoch nicht allzu viele neue Facetten abgewinnen kann. Zu einem heimlichen Publikumsliebling avanciert eher Glee-Urgestein Jonathan Groff als King George III, den man zwar eher als amüsanten Gaststar beschreiben könnte, dessen Song aber aufgrund der sich passenderweise vom Rest unterscheidenden musikalischen Sprache (softer Retro-Britpop) die Ohrmuschel nicht mehr verlassen will. Der britische König wird hier (wie King Herod, um einen weiteren Vergleich mit Jesus Christ Superstar heranzuziehen) zur absoluten Karikatur stilisiert - und wie ein verschmähter Liebhaber (mit S/M-Tendenzen) gezeichnet, der zunächst eifersüchtig geifert, sich dann aber diebisch an den politischen Querelen in den USA erfreut, die der gerade erlangten Unabhängigkeit folgen. Auch er hat mit seinen Texten letztendlich nicht ganz unrecht: Das eigentliche Regieren ist der schwere Teil. 

„The Room where it happens“

Die Regieführung besticht vor allem durch ihre Simplizität mit stimmigen Akzenten. Die Kostüme sind eine Mischung aus der Zeit entstammenden Stilen sowie moderneren Einflüssen, die Choreographie ist manchmal ein Hauch zu viel des Guten, unterstreicht aber meistens – auch dank des großartigen, einem griechischen Chor ähnelnden Ensembles – die Dynamik des Geschehens mit Moves am Puls der Zeit. Das Bühnenbild überlässt das Meiste der Fantasie und besteht hauptsächlich aus einer Backsteinwand und einem Konstrukt hölzerner Gerüste und Treppen, die blitzschnell verschoben und zu neuen Bildern umfunktioniert werden können. Das raffinierte Lichtdesign tut sein Übriges.

Der Kameraführung gelingt nicht immer die perfekte Balance aus intimen Nahaufnahmen und einer Totalen, die einen Überblick über das rasante Gesamtgeschehen ermöglicht (ähnlich der statischen Sicht, wie man sie tatsächlich als Theaterzuschauer hätte), was sich aber im Laufe der 160 Minuten Laufzeit bessert. Die Mischung aus Kammerspiel und wuchtigem Epos vermittelt auf genau die richtige Art und Weise einen Eindruck des Rohen, Unfertigen – sowie es diese Schmelztiegel, jenes „Experiment USA“ bis heute ist.

„Who lives, who dies, who tells your Story?“

Diese Frage wird im Epilog gestellt. Auf rein narrativer Ebene kommt die Antwort zwar überraschend, aber eindeutig daher. Im wahren Leben stehen die Dinge deutlich komplexer: Geschichte wird von den Siegern geschrieben – wer erhält ein Mitspracherecht, darf seine Stimme benutzen? Wer wird verzerrt oder ausgeblendet? Was sind die Beweggründe dahinter? Und wie formt die Story, die dabei herauskommt, unser Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Fragen wie diese beschäftigen die Gesellschaft wie auch ihre Kulturprodukte gleichermaßen – Hamilton ist ein wahrhaft kunstvoll gemachter Beitrag dazu.

Fazit:

Leider werden hochqualitative Bildaufnahmen von Musicals wie diese aufgrund der dahinterstehenden, komplexen Problemlage wohl die Ausnahme bleiben. Umso begrüßenswerter ist es, dass Disney+ diese Möglichkeit bietet, sich einen Broadway-Hit ins Wohnzimmer zu holen. Hamilton ist ein Muss für alle Musicalfans – und solche, die noch nicht wissen, dass sie es sind!

"Hamilton" wird exklusiv bei Disney+ ausgestrahlt.

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