Die Sammlerin der verlorenen Wörter

  • Diana
  • Erschienen: April 2022
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- OT: The Dictionary of Lost Words

- aus dem Englischen von Christiane Burkhardt

- HC, 528 Seiten

Die Sammlerin der verlorenen Wörter
Die Sammlerin der verlorenen Wörter
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Carola Krauße-Reim
851001

Belletristik-Couch Rezension vonMai 2022

Wörter können viele Bedeutungen haben

Das „Oxford English Dictionary“ dürfte viele von uns durch die Schulzeit begleitet haben. Seinem Entstehen zwischen 1857 und der 1.Gesamtauflage mit 12 Bänden im Jahr 1928 widmet sich die Autorin in diesem Buch. Es ist ihr erster Roman und wurde nicht nur in ihrer Heimat Australien ein großer Erfolg. Williams hat sich von den Gedanken leiten lassen, dass Wörter für Männer und Frauen unterschiedliche Bedeutungen haben könnten. Außerdem fanden viele der gesammelten Wörter keinen Eingang in das Wörterbuch, weil sie in der damaligen Zeit als zu obszön angesehen wurden oder Begriffe erklärten, die sich zu sehr auf Frauen bezogen und damit für die männlich geprägte Gesellschaft nur wenig von Interesse waren.

Esmes Lebensgeschichte wird erzählt

Esme ist die Tochter des Lexikographen Harry Nicoll, ein Mitarbeiter im Team von James Murray. Im Skriptorium, einem Wellblechschuppen im Garten von Murrays Haus, sammeln und bewerten sie die Belegzettel für das „Oxford English Dictionary“. Esme sitzt als Kind täglich unter dem langen Arbeitstisch und beobachtet die Männer. Manchmal fällt ein Belegzettel versehentlich herunter oder wird aussortiert. Mit der Zeit erkennt Esme, dass vor allem Wörter, die Frauen betreffen weggeworfen werden. Sie beginnt diese zu sammeln und versteckt sie in einer Truhe bei ihrer Freundin Lizzie, die als Haushaltshilfe im Hause Murray arbeitet – eine „bondmaid“, obwohl es diesen Begriff laut Wörterbuch gar nicht gibt. Williams lässt uns Esme durch ihr manchmal tragisches, oft glückliches Leben begleiten – vom Kind bis zur Frau, die auch im „Scrippy“ arbeitet und die die verlorenen Wörter nie vergessen hat.

Fiktive und historische Figuren beleben das Buch

Viele der Figuren im Buch sind historisch – von James Murray und seiner Familie über Herausgeber Henry Bradley bis zu Edith Thompson, die, wie viele andere Frauen auch, Wörter und ihre Belege sammelte und dennoch nie namentlich im Dictionary erwähnt wurden. Sie durften den Männern beim Galadinner, zum Anlass der Erstveröffentlichung der Gesamtauflage, nur von der Empore beim Essen zusehen. Protagonistin Esme und ihre Freundin Lizzie sind fiktiv und werden damit nur Projektionsfläche für die Autorin.

Aus Lizzie wird die duldsame Hausangestellte, die zwar ihre eigenen Ansichten hat, diese aber nicht laut äußert um keinen Ärger zu bekommen. Sie dürfte damit der überwiegenden Mehrheit der damaligen weiblichen Hausangestellten entsprechen. Bei Esme hingegen hätte die Autorin ruhig etwas mutiger in der Figurenzeichnung sein können. Das sehr geduldige Kind, das nie Ärger macht, immer folgsam ist und sich für nichts anderes als Wörter zu interessieren scheint ist schon sehr idealistisch; die junge Frau, die dann plötzlich gegen Konventionen verstößt, ohne mit der Wimper zu zucken die Sprache der Huren auf Belegzetteln sammelt und in persönliche Schwierigkeiten gerät, ist dann doch sehr gegensätzlich zu ihrem Kinder-Ich zu sehen. Ihr durchgehend sanfter und nachsichtiger Charakter und ihre oft angepassten Handlungen sind wohl eher dem Verlauf der Geschichte geschuldet und dürften, genauso, wie die Reaktionen ihrer Umwelt auf einen folgenschweren Fehler ihrerseits, wenig realistisch gewesen sein. Dieses eindimensionale Idealbild nimmt dem Roman die Glaubwürdigkeit und damit auch etwas von der Tiefe – dennoch er fesselt die Leserschaft auf sympathische Weise an das Geschehen.

Die viktorianische Zeit wird neu belebt

Esmes Lebensgeschichte ist gleichzeitig ein spannender Ausflug in die Zeit der Jahrhundertwende und des 1. Weltkrieges. Die Moralvorstellung dieser als prüde gekennzeichneten viktorianischen Epoche werden mit jedem „Frauenwort“ offensichtlicher. Die patriarchalisch geprägte Gesellschaft ließ Frauen für sich arbeiten, aber sah von einer Würdigung dieser Dienstleistungen ab. Egal ob es sich um Schauspielerinnen, Huren, Dienstmädchen oder Mitarbeiterinnen am Wörterbuch handelte, Frauen waren Menschen zweiter Klasse. Da Williams genau das belletristisch aufarbeiten wollte, darf die Bewegung der Suffragetten natürlich nicht fehlen, die mit ihrem Leben für das Wahlrecht der Frauen kämpften. Der 1. Weltkrieg war dann für beide Geschlechter ein einschneidendes und traumatische Erlebnis, das auch Esme direkt betrifft. Sie schlüpft in die Rolle der Pflegenden, Trauernden und darf dann doch etwas mehr tun als andere Frauen. Diese Zeit des Wandels in der Gesellschaft hat Williams sehr gut eingefangen und auf das Leben von Esme projiziert.

Angenehmer Stil - mit kleinen Abstrichen

Wer gerne Romane mit weiblichen Protagonistinnen vor historischem Hintergrund und eingebauter Liebesgeschichte liest, dürfte von diesem Buch begeistert sein. Die ungewöhnliche Perspektive aus Sicht einer Frau und der angenehme Stil machen die fast 500 Seiten zu einem Lesevergnügen. Allerdings sollte man sich auf Passagen gefasst machen, in denen die Autorin ihrer Faszination über die Entstehung des „„Oxford English Dictionary“ freien Lauf lässt. Esmes Leben ist eng mit der Erarbeitung der einzelnen Bände des Wörterbuches verbunden, was eine ständige Erwähnung dieser Arbeit, der Belegzettel und deren Entstehung oder Bearbeitung mit sich zieht. Man sollte am besten schon ein wenig eigenes Interesse am Medium Sprache mitbringen, um darüber nicht das Interesse an der eigentlichen Geschichte zu verlieren, die als Ganzes gesehen absolut lesenswert ist.

Fazit

Ein Leckerbissen für Fans von Geschichten mit historischem Hintergrund und weiblichen Protagonistinnen. Allerdings sollte man ein eigenes Interesse am Medium Sprache mitbringen, denn Wörter, ihre Bedeutung und Bearbeitung sind der Mittelpunkt in Esmes Leben.

Die Sammlerin der verlorenen Wörter

Pip Williams, Diana

Die Sammlerin der verlorenen Wörter

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